Weß ist der Erdenraum? Des Fleißigen. Weß ist die Herrschaft? Des Verständigen. Weß sei die Macht? Wir wünschen alle, nur Des Gütigen, des Milden. Rach’ und Wuth Verzehrt sich selber. Der Friedselige Bleibt und errettet. Nur der Weisere Soll unser Vormund seyn. Die Kette ziemt Den Menschen nicht und minder noch das Schwert.
(Johann Gottfried von Herder, Weß ist der Erdenraum?, aus: Die Fremdlinge, in: Zerstreute Blätter, Sechste Sammlung, VII. Legenden, Neue Auflage 1820, Online-Quelle)
II.
Verlange nichts von irgendwem, laß jedermann sein Wesen, du bist von irgendwelcher Fehm zum Richter nicht erlesen.
Tu still dein Werk und gib der Welt allein von deinem Frieden, und hab dein Sach auf nichts gestellt und niemanden hienieden.
(Christian Morgenstern, Verlange nichts von irgendwem, aus: Wir fanden einen Pfad, 1914, Online-Quelle)
Es wird citiert hienieden …
Es wird citiert hienieden Ein Bild zum Ueberdruß: Von dem Faß der Danaiden Und dem Stein des Sysiphus.
Schafft endlich Beiden Frieden Durch freundlichen Beschluß: Verstopft das Faß der Danaiden Mit dem Stein des Sysiphus.
(Albert Roderich, 1846–1938, Schriftsteller und Aphoristiker, Es wird citiert hienieden, keine Quelle bekannt, möglicherweise aus den „Fliegenden Blättern“ oder „In Gedanken. Vers-Aphorismen“, Online-Quelle)
Als ich vor wenigen Tagen eher zufällig den ersten Gedichteintrag des letzten Jahres aufrief, stutzte ich, weil er „Vom Frieden“ hieß und mir das spontan doch bemerkenswert vorkam. Also, dachte ich mir, kann ich ihn auch noch einmal (verändert) wiederholen, denn ich finde den Gedanken, einem Übel ein anderes in den Rachen zu stopfen und damit beide zu erschlagen, immer noch reizvoll. Ich glaube allerdings noch weniger als letztes Jahr, dass es funktioniert. Und ach, Herder: Der Text spielt zu der Frühzeit der deutschen Christianisierung, da mal reinzulesen lohnt sich durchaus ;-), der steht hier also richtig außerhalb jedes Kontextes als frommer (wenn auch sehr nachvollziehbarer) Wunsch … Ja, Gerda, ich habe bei den Danaiden auch an dein Weltentheater denken müssen.
Auch in diesem Jahr: Kommt gut und gesund und heil in und durch die neue Woche!
Der Nachtschelm und das Siebenschwein oder Eine glückliche Ehe
Der Nachtschelm und das Siebenschwein, die gingen eine Ehe ein, o wehe! Sie hatten dreizehn Kinder, und davon war eins der Schluchtenhund, zwei andre waren Rehe.
Das vierte war die Rabenmaus, das fünfte war ein Schneck samt Haus, o Wunder! Das sechste war ein Käuzelein, das siebte war ein Siebenschwein und lebte in Burgunder.
Acht war ein Gürteltier nebst Gurt, neun starb sofort nach der Geburt, o wehe! Von zehn bis dreizehn ist nicht klar; – doch wie dem auch gewesen war, es war eine glückliche Ehe!
(Christian Morgenstern, Der Nachtschelm und das Siebenschwein oder Eine glückliche Ehe, aus: Galgenlieder, 1932, Online-Quelle)
VERSÖHNUNG
Es ließe sich alles versöhnen, Wenn keine Rechenkunst es will. In einer schönen, Ganz neuen und scheuen Stunde spricht ein Bereuen So mutig still.
Es kann ein ergreifend Gedicht Werden, das kurze Leben, Wenn ein Vergeben Aus Frömmigkeit schlicht Sein Innerstes spricht.
Zwei Liebende auseinandergerissen: Gut wollen und einfach sein! Wenn beide das wissen, Kann ihr Dach wieder sein Dach sein Und sein Kissen ihr Kissen.
Und wieder: Normalerweise veröffentliche ich keine zwei Beiträge an einem Tag, damit sie sich untereinander keine Konkurrenz machen, speziell bei den Adventüden möchte ich das nicht. Aber weil mein Herz daran hängt, will ich euch so ganz ohne Gedicht(e) dann doch nicht in/durch die Woche entlassen.
Mir fiel es heute schwer, der schrägen Adventüde etwas zur Seite zu stellen. Ich hoffe, ihr lasst euch dennoch berühren, nachdenklich machen … und lächelt.
WIE MACHEN WIR UNS GEGENSEITIG DAS LEBEN LEICHTER?
Wir haben zu großen Respekt vor dem, Was menschlich über uns himmelt. Wir sind zu feig oder sind zu bequem, Zu schauen, was unter uns wimmelt.
Wir trauen zu wenig dem Nebenuns. Wir träumen zu wenig im Wachen. Und könnten so leicht das Leben uns Einander leichter machen.
Wir dürften viel egoistischer sein Aus tierisch frommem Gemüte. – In dem pompösesten Leichenstein Liegt soviel dauernde Güte.
Ich habe nicht die geringste Lust, Dies Thema weiter zu breiten. Wir tragen alle in unsrer Brust Lösung und Schwierigkeiten.
(Joachim Ringelnatz, Wie machen wir uns gegenseitig das Leben leichter?, aus: Flugzeuggedanken, Berlin 1929, Online-Quelle)
Es gehört nicht viel dazu
Es gehört nicht viel dazu Einander glücklich zu machen: Ein bißchen Liebe nur Und ein befreiendes Lachen Und die Klugheit, zu wissen, Daß wir lauter Bettler sind, Die von Pfennigen leben müssen, Die man am Weg gewinnt.
(A. de Nora, Es gehört nicht viel dazu, aus: Hochsommer, Neue Gedichte. 1912, Online-Quelle, Quelle unbestätigt)
Ich habe es letzte Woche schon geschrieben: Normalerweise veröffentliche ich keine zwei Beiträge an einem Tag, damit sie sich untereinander keine Konkurrenz machen, speziell bei den Adventüden möchte ich das nicht. Aber weil mein Herz daran hängt, will ich euch so ganz ohne Gedicht(e) dann doch nicht in/durch die Woche entlassen.
Ich bitte um Entschuldigung – nachdem ich übers Wochenende höchst melodramatisch vor mich hin gefroren habe, dachte ich, ein paar passende Gedichte wären nicht falsch.
Wem es noch nicht aufgefallen ist: Die Termine für die Adventüden sind raus und sollten in euren Mailkästen sein 😉
Nichtsdestotrotz: Kommt gut und sorglos und heiter in und durch die neue Woche!
Schon mischt sich Rot in der Blätter Grün, Reseden und Astern sind im Verblühn, Die Trauben geschnitten, der Hafer gemäht, Der Herbst ist da, das Jahr wird spät.
Und doch (ob Herbst auch) die Sonne glüht, – Weg drum mit der Schwermut aus deinem Gemüt! Banne die Sorge, genieße, was frommt, Eh’ Stille, Schnee und Winter kommt.
SCHON hängt die Sonne niedrig im Geäst der finstern Fichten. Manchmal strahlt sie blendend noch einmal auf, ein Nadelnetz entsendend, das einen Stamm in Blitzen stehen läßt.
Die schmalen Birken träumen goldumflort, in kaum gehörtem Hauch wie Seide fließend, ihr flüsternd Blätterrieseln ausgenießend, weil Herbstgekrächz hochhin die Luft durchbohrt.
Schwermütige Wege war ich gegangen, Nahm ich mein leidvolles Leben doch mit. Auf den sterbenden Blättern hangen Sah ich in Rotschrift, was alles ich litt.
Plötzlich fasste ein Windstoss die Blätter, Wehte die welken zur Erde hinab. … Wirft auch einmal ein letztes Wetter Alle zitternden Schmerzen ins Grab?
(Karl Ernst Knodt, Im Spätherbst, aus: Neue Gedichte, 1902, Online-Quelle)
Auch wenn das Wetter sich hier im Norden Deutschlands nicht ganz der Jahreszeit entsprechend verhält, habe ich dieses Mal wieder ein paar eher vielleicht unbekanntere Herbstgedichte ausgesucht.
Pro Jahr eine Ballade auswendig lernen, wie mir neulich über einen erzählt wurde, das finde ich einen wirklich interessanten Vorsatz, den möchte ich mit dem heutigen Balladentag (ich habe ihn angekündigt!) gern unterstützen. Klar, ich spreche natürlich von den alten deutschen Balladen, nicht von den englischen, nicht von den gesungenen, auch wenn Bob Dylan den LITERATUR-Nobelpreis bekommen hat. Mit einer Freundin hatte ich schon zu Schulzeiten eine Wette laufen, nach der ich Schillers Glocke hätte auswendig lernen (und vortragen) müssen, wenn ich verloren hätte. Ich bin heute noch froh, dass DAS an mir vorbeigegangen ist. 😉
Ich möchte euch heute einer meiner erklärten Lieblingsballaden näherbringen: Die Mär vom Ritter Manuel. Mit ihr habe ich gleich ein doppeltes Problem: Man darf sie nicht zitieren (die Dichterin ist 1964 gestorben, sie ist also nicht gemeinfrei), und die Dichterin war eine Nazigröße. Nun ist besagte Dichterin, Agnes Miegel, ihr Name wird einigen von euch vielleicht bekannt sein, 1879 in Königsberg/Ostpreußen geboren, und hatte, obwohl eher unpolitisch (und religiös), immer in konservativen Kreisen gelebt, was ihre Haltung sicherlich entsprechend vorgeprägt hat. Spätestens ab der Jahrhundertwende beschäftigte sie sich neben ihrer Lyrik intensiv mit Balladenstoffen und hatte überaus großen Erfolg, später wurde sie speziell als »Dichterin Ostpreußens« wahrgenommen. Die Nazis vereinnahmten sie und sie machte mit, so sehr, dass sie später auf der »Gottbegnadeten-Liste« (Wikipedia) landete, also oberstes Regal. Carl Zuckmayer hat bezogen auf sie davon gesprochen, sie sei einer »völligen Hirnvernebelung« verfallen (Wikipedia), und sie soll nach dem Krieg gesagt haben: »Dies habe ich mit meinem Gott alleine abzumachen und mit niemand sonst.« (Wikipedia) Ich habe viel darüber nachgedacht. Ich habe damals nicht gelebt, ich mag nicht richten, je älter ich werde, umso weniger weiß ich, wie ich mich verhalten hätte. Hinterher ist man immer schlauer. Und auch heute verfallen Menschen wieder aus Überzeugung merkwürdigen Ideologien, wie man in den letzten Jahren eindrücklich gesehen hat …
Natürlich bereitet mir das seit Jahrzehnten (ja, kein Witz) Magenschmerzen. Darf ich eine frühe Ballade einer Frau, die zumindest einen Teil ihres Lebens begeisterte Nationalsozialistin war, mögen? Ja, habe ich entschieden, das darf ich. »Die Mär vom Ritter Manuel« ist bereits in Miegels Buch »Balladen und Lieder« 1907 erschienen, das reicht mir als Entstehungsdatum. Außerdem kommt hinzu, dass mein Vater, der jene Zeit sehr wohl erlebt hat, diese Ballade trotz allem unter seinen persönlichen Best-ofs führte, und auch er hat sich diese Gedanken gemacht.
Okay, warum möchte ich euch ausgerechnet heute für eine Ballade begeistern, die ich nicht mal abtippen darf? Weil ich vor drei Tagen zufällig auf eine uralte Aufnahme von 1961 gestoßen bin, auf der der unvergessene Gert Westphal diese Ballade spricht. Ich weiß nicht, ob dort die ganze Schallplatte ins Netz gestellt worden ist, auf der sich auch diese Ballade befindet (»Anthologie Deutscher Dichtung – Deutsche Fabeln Von Luther Bis Kafka / Deutsche Balladen Von Bürger Bis Brecht«), aber man kann diese Platte zurzeit auch online streamen, und die Hamburger Bücherhallen haben einen Online-Link zur Naxos Music Library, woher die Aufnahme scheinbar stammt.
So. Ende der laaaangen Vorrede.
Das ist die Mär vom Ritter Manuel der auf des fremden Magiers Geheiß sein Haupt in eine Zauberschale bog. Und als er’s wieder aus dem Wasser zog, da seufzte er und sprach …
So weit fürs Erste. Dem guten Ritter ist das passiert, was gern passiert, wenn man fremden Magiern vertraut … dumm gelaufen! Für ihn sind in den paar Augenblicken zwanzig Jahre vergangen, er empfindet sich als alt und am Ende seines Lebens. Er verspricht, dem Herrscher später ausführlich davon zu erzählen, aber nicht sofort, denn »ein Gram durchrüttelt mich, den nie ein Mensch gekannt. Sieh, ich verließ mein Weib in jenem Land …« und er weiß nichts mehr: nicht mehr den Weg zurück, nicht mehr den Namen jenes Landes, nicht einmal mehr den Namen jener so geliebten Frau. Der König lässt den Magier rufen, damit er den Ritter von dem Bann des Zaubers befreie, aber der ist spurlos verschwunden. Der verzauberte Ritter bleibt am Hof, erinnert sich nicht, quält sich über Jahre und wird schließlich auf einer Jagd von einem verirrten Geschoss getroffen … »und stammelte, eh er die Augen schloss: Tamara! Und er starb. Die Zeit verrann …« Aber irgendwann kommt eine Gruppe Fremder an den Hof, und ihr Fürst tritt vor den König und fragt: »Wo ist, nach dem wir ausgesandt, mein König Manuel, Tamaras Gatte, den sie in ihrem Felsenschloss beweint …?«, und erklärt, der »sternenkundige Magier« habe ihn an seinen Hof geschickt. Der König greift stumm nach einer Handvoll Erde und lässt sie herabrieseln, und die Männer reiten klagend wieder fort. Nachts kann der König daraufhin nicht schlafen, und sein Page hört ihn rufen: »›Erbarmer aller Welt, sprich, was ist Schein?‹ Und lange vor dem Kruzifixe stand der König starr mit ausgestreckter Hand.«
Agnes Miegel hat sich mit Zeitgenossen über den Stoff ihrer Ballade ausgetauscht (hier lesen): »Thamar«/»Tamara« ist ein Name aus der Bibel, er bedeutet »Dattelpalme« (wusstet ihr, dass der so alt ist?). Es ist aber auch der Name einer mächtigen georgischen Königin (1160–1213) (Wikipedia). Am Terek, einem Fluss, der in Georgien entspringt, soll ein Turm stehen, der Tamaras Namen trägt. Agnes Miegel hat bei ihrer Schilderung die georgische Landschaft gemeint. Ferner entstammt das Motiv wohl dem Dekameron (X, 9. Geschichte) (Zeno.org) und japanischen und chinesischen Sagen. Ich liebe das ja, so etwas zu erfahren.
Wen es von euch jetzt noch nicht erwischt hat, dem kann ich auch nicht helfen, der*die hat vermutlich keinen Sinn für Balladen, für Märchen und Geschichten und Fantasy oder was auch immer. Mich hat speziell das Ende schon in meiner Jugendzeit fasziniert, und ich liebe die Ballade noch immer – die übrigens in einigen Anthologien zu finden ist.
Gert Westphal macht aus dieser Ballade einen Ohrwurm, und seitdem flüstert es immer wieder in meinem Ohr: »… der auf des fremden Magiers Geheiß sein Haupt in eine Zauberschale bog« … Tun wir das nicht alle, wenn wir lesen?
Müder Glanz der Sonne! Blasses Himmelblau! Von verklungner Wonne Träumet still die Au.
An der letzten Rose Löset lebenssatt Sich das letzte lose, Bleiche Blumenblatt!
Goldenes Entfärben Schleicht sich durch den Hain! Auch Vergehn’n und Sterben Däucht mir süß zu sein.
(Karl Friedrich von Gerok, Herbstgefühl, aus: Palmblätter, 1860, Online-Quelle)
Herbstbild
Dieß ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah! Die Luft ist still, als athmete man kaum, Und dennoch fallen raschelnd, fern und nah‘, Die schönsten Früchte ab von jedem Baum.
O stört sie nicht, die Feier der Natur! Dieß ist die Lese, die sie selber hält, Denn heute lös’t sich von den Zweigen nur, Was vor dem milden Strahl der Sonne fällt.
Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß. Leg Deinen Schatten auf die Sonnenuhren und auf den Fluren laß die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein; gieb ihnen noch zwei südlichere Tage dränge sie zur Vollendung hin und jage die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist wird es lange bleiben, wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben und wird in den Alleen hin und her unruhig wandern wenn die Blätter treiben.
(Rainer Maria Rilke, Herbsttag, aus: Das Buch der Bilder, 1. Buch Teil 2, S. 48, 1902 (Entstehungsdatum), Online-Quelle)
Einmal im Jahr (ich achte sorgfältig darauf, dass nicht öfter, ich könnte ihn ständig zitieren) gibt es bei mir diesen einen meiner Lieblings-Rilkes. Ich habe dieses Gedicht als Jugendliche kennen- und lieben gelernt und nie vergessen.
Kommt gut und heil in und durch die neue Woche!
Außerdem habe ich mir überlegt, dass nächsten Montag nach langer Zeit mal wieder BALLADENTAG sein könnte?! Wie ist es mit euch, seid ihr dabei? Was ich damit meine, könnt ihr hier genauer nachlesen.
Astern blühen schon im Garten, Schwächer trifft der Sonnenpfeil Blumen, die den Tod erwarten Durch des Frostes Henkerbeil.
Brauner dunkelt längst die Heide, Blätter zittern durch die Luft. Und es liegen Wald und Weide Unbewegt im blauen Duft.
Pfirsich an der Gartenmauer, Kranich auf der Winterflucht. Herbstes Freuden, Herbstes Trauer, Welke Rosen, reife Frucht.
(Detlev v. Liliencron, Herbst, aus: Adjutantenritte und andere Gedichte, Leipzig, 1883, Online-Quelle)
Musik im Mirabell
Ein Brunnen singt. Die Wolken stehn Im klaren Blau, die weißen, zarten. Bedächtig stille Menschen gehn Am Abend durch den alten Garten.
Der Ahnen Marmor ist ergraut. Ein Vogelzug streift in die Weiten. Ein Faun mit toten Augen schaut Nach Schatten, die ins Dunkel gleiten.
Das Laub fällt rot vom alten Baum Und kreist herein durchs offne Fenster. Ein Feuerschein glüht auf im Raum Und malet trübe Angstgespenster.
Ein weißer Fremdling tritt ins Haus. Ein Hund stürzt durch verfallene Gänge. Die Magd löscht eine Lampe aus, Das Ohr hört nachts Sonatenklänge.
(Georg Trakl, Musik im Mirabell, aus: Gedichte (1913), Online-Quelle)
[Fürchte dich nicht]
Fürchte dich nicht, sind die Astern auch alt, streut der Sturm auch den welkenden Wald in den Gleichmut des Sees, – die Schönheit wächst aus der engen Gestalt; sie wurde reif, und mit milder Gewalt zerbricht sie das alte Gefäß.
Sie kommt aus den Bäumen in mich und in dich, nicht um zu ruhn; der Sommer ward ihr zu feierlich. Aus vollen Früchten flüchtet sie sich und steigt aus betäubenden Träumen arm ins tägliche Tun.
(Rainer Maria Rilke, Fürchte dich nicht, aus: Die frühen Gedichte, 2. Auflage 1909, stark überarbeitete Ausgabe von »Mir zur Feier« von Dez. 1899, Entstehungsdatum verm. 1900, Online-Quelle)
Nun hat es sich gewendet Das grüne Buchenblatt, Nun hat es sich geendet, Was mich erfreuet hat.
Die Rose hat verloren Die roten Blüten all, Was du mir hast geschworen, Es war ein leerer Schall.
Das Blatt am Buchenbaume Gibt keinen Schatten mehr, Dem allerschönsten Traume Blüht keine Wiederkehr.
(Hermann Löns, Das Buchenblatt, aus: Der kleine Rosengarten, 1911, Online-Quelle)
Des Narren Regenlied
Regenöde, regenöde Himmel, Land und See; Alle Lust ist Last geworden, Und das Herz thut weh.
Graugespinstig hält ein Nebel Alles Sein in Haft, Weher Mut weint in die Weiten, Krank ist jede Kraft.
Die Prinzessin sitzt im Turme; Ihre Harfe klingt, Und ich hör, wie ihre Seele Müde Sehnsucht singt.
Regenöde, regenöde Himmel, Land und See; Alle Lust ist Last geworden, Und das Herz thut weh.
(Otto Julius Bierbaum, Des Narren Regenlied, aus: Irrgarten der Liebe, 1901, Online-Quelle)
[Dich wundert nicht des Sturmes Wucht]
Dich wundert nicht des Sturmes Wucht, – du hast ihn wachsen sehn; – die Bäume flüchten. Ihre Flucht schafft schreitende Alleen. Da weißt du, der, vor dem sie fliehn, ist der, zu dem du gehst, und deine Sinne singen ihn, wenn du am Fenster stehst.
Des Sommers Wochen standen still, es stieg der Bäume Blut; jetzt fühlst du, daß es fallen will in den, der alles tut. Du glaubtest schon erkannt die Kraft, als du die Frucht erfaßt, jetzt wird sie wieder rätselhaft, und du bist wieder Gast.
Der Sommer war so wie dein Haus, drin weißt du alles stehn – jetzt mußt du in dein Herz hinaus wie in die Ebene gehn. Die große Einsamkeit beginnt, die Tage werden taub, aus deinen Sinnen nimmt der Wind die Welt wie welkes Laub.
Durch ihre leeren Zweige sieht der Himmel, den du hast; sei Erde jetzt und Abendlied und Land, darauf er paßt. Demütig sei jetzt wie ein Ding, zu Wirklichkeit gereift, – daß Der, von dem die Kunde ging, dich fühlt, wenn er dich greift.
(Rainer Maria Rilke, Dich wundert nicht des Sturmes Wucht, aus: Das Buch von der Pilgerschaft, in: Das Stundenbuch, 1901, Online-Quelle)
Im Garten vor dem Pfarrhaus blühn Veil, Sonnenblum und Rosmarin. Vincula Petri geht alsdann den Weizen mit der Sense an. Die Traube kocht, es gilbt der Mais, die Störche sammeln sich zur Reis‘, und bleibn sie noch nach Barthelmä, ein Winter kommt, der tut nicht weh. Brachüber grast das Weidevieh, und auf den Tennen schlagen sie den Flegeltakt durchs ganze Land. So geht das Ackerjahr zu Rand.
(Josef Weinheber, August, aus: O Mensch, gib acht!, 1937, Online-Quelle)
August
Inserat
Die verehrlichen Jungen, welche heuer Meine Äpfel und Birnen zu stehlen gedenken, Ersuche ich höflichst, bei diesem Vergnügen Wo möglich insoweit sich zu beschränken, Daß sie daneben auf den Beeten Mir die Wurzeln und Erbsen nicht zertreten.
Habt ihr einen Kummer in der Brust Anfang August, Seht euch einmal bewußt An, was wir als Kinder übersahn.
Da schickt der Löwenzahn Seinen Samen fort in die Luft. Der ist so leicht wie Duft Und sinnreich rund umgeben Von Faserstrahlen, zart wie Spinneweben.
Und er reist hoch über euer Dach, Von Winden, schon vom Hauch gepustet. Wenn einer von euch hustet, Wirkt das auf ihn wie Krach, Und er entweicht.
Luftglücklich leicht. Wird sich sanft wo in Erde betten. Und im Nächstjahr stehn Dort die fetten, goldigen Rosetten, Kuhblumen, die wir als Kind übersehn.
Zartheit und Freimut lenken Wieder später deren Samen Fahrt.
Flöge doch unser aller Zukunftsdenken So frei aus und so zart.
Dies ist des Herbstes leidvoll süße Klarheit, die dich befreit, zugleich sie dich bedrängt; wenn das kristallene Gewand der Wahrheit sein kühler Geist um Wald und Berge hängt.
Dies ist des Herbstes leidvoll süße Klarheit …
(Christian Morgenstern, Septembertag, aus: Und aber ründet sich ein Kranz, 1902, Online-Quelle)
Adventüden: 20 bisher. Noch bis Ende nächster Woche. DANKE an die einen – und an die anderen: Hallo! Time is nearly over! NUR NOCH BIS ENDE NÄCHSTER WOCHE!
Wie oft wirst du gesehn Aus stillen Fenstern, Von denen du nichts weisst … Durch wie viel Menschengeist Magst du gespenstern, Nur so im Gehn …
(Christian Morgenstern, Aus stillen Fenstern, aus: Einkehr, 1910, Online-Quelle)
Nach all den Nächten, die voll Sternen hingen
Nach all den Nächten, die voll Sternen hingen, Nun diese dumpfe, trübe, nasse Nacht, Als wär’ die Arbeit aller Zeit vollbracht Und niemals wieder Hoffnung auf Gelingen!
Wohin die Schritte weisen, da das Ziel Ertrank im nebeligen Grau der Wege? Ich such’ nur noch, wo ich mich niederlege, Den stillen Platz. Verloren ist das Spiel.
Ich höre vieler Menschen Schritte tasten – Verirrte Menschen, einsam, müd und arm, – Und keiner weiß, wie wohl ihm war und warm, Wenn wir einander bei den Händen faßten.
(Erich Mühsam, Nach all den Nächten, die voll Sternen hingen, aus: Wolken. 1909–1913, Online-Quelle)
Es gehört nicht viel dazu
Es gehört nicht viel dazu Einander glücklich zu machen: Ein bißchen Liebe nur Und ein befreiendes Lachen Und die Klugheit, zu wissen, Daß wir lauter Bettler sind, Die von Pfennigen leben müssen, Die man am Weg gewinnt.
(A. de Nora, Es gehört nicht viel dazu, aus: Hochsommer, 1912, Online-Quelle, Quelle zweifelhaft)
(Friedrich von Logau, Geschmünckte Freundschafft, aus: Salomons von Golaw Deutscher Sinn-Getichte erstes Tausend, Desz ersten Tausend sechstes Hundert, 25., entstanden 1640/41, Online-Quelle)
Dein wahrer Freund
Dein wahrer Freund ist nicht, wer dir den Spiegel hält Der Schmeichelei, worin dein Bild dir selbst gefällt. Dein wahrer Freund ist, wer dich sehn lässt deine Flecken und sie dir tilgen hilft, eh Feinde sie entdecken.
(Friedrich Rückert, Dein wahrer Freund, 203., aus: Die Weisheit des Brahmanen. Bd. 2, 1837, Online-Quelle)
Dem fremden Freunde
Es war Dein Wort ein blitzend Schwert, Das für mich stritt; Es war Dein Wort der Seele Schrei, Die für mich litt. Die herbe Thräne war Dein Wort, Geweint um mich; Ein guter Engel war Dein Wort, Der nimmer wich! Dein Wort, es gab mir neuen Muth, Es drang befreiend stolz zu mir; Du Fremder, sieh mein schlichtes Wort, Es dankt zu tausend Malen Dir!
(Ada Christen, Dem fremden Freunde, aus: Aus der Asche (Letzte Lieder), 1870, Online-Quelle)
Sieh, ich war so oft allein
Sieh, ich war so oft allein, Und ich lernte gleich den Zweigen, Gleich dem Stein, Träume wachen, Worte schweigen.
Denke, daß ich Dichter bin. Eure Sonne ist nicht meine. Nimm als Freund mich hin, Wenn ich dir auch fremd erscheine.
Laß mich lauschen aus der Ferne, Wenn ihr tanzend schwebt, Daß auch ich das Schwere lerne: Wie man narrenglücklich lebt.
(Joachim Ringelnatz, Sieh, ich war so oft allein, aus: Gedichte, 1910, Online-Quelle)