15.12. – Ronny | Adventüden

Wenn ich auf dem stillen Örtchen sitze, in unserem Haus, das schon vor über einem Jahrhundert entstand, betrachte ich die Fliesen auf dem Boden und an der Wand. Den Boden zieren kleine beige und braun melierte Fliesen im Schachbrettmuster, auf denen mitunter obskure Gestalten erscheinen. An der Wand kleben halbhoch blau melierte Fliesen im 15-mal-15-Format.

Als diese wahrscheinlich so vor sechzig Jahren verlegt wurden, war die Welt noch eine ganz andere. Der Fliesenleger ging vermutlich um fünf Uhr im Morgennebel aus dem Haus, um mit dem Zuckerlottchen nach Ingelheim zu fahren. Dort setzte er sich dann in den Zug nach Rüsselsheim zu seiner Werkbank. Bis er wieder zu Hause war, war es spät. Der Verdienst reichte aber nicht, und so ging er jede freie Minute seinem Hobby nach, Fliesenlegen, Mauern, Dachdecken, was gerade so anfiel. Das hatte er alles in der Kriegsgefangenschaft gelernt, also besser gesagt, er hatte es sich selbst beigebracht und war froh, wenn er mit der Hand etwas bewerkstelligen konnte.
Am Wochenende gab es Tanz mit der neuen Tanzband, die hatten sogar ein richtiges Saxofon. Dort lernte er auch Elfriede kennen. Also so richtig; gesehen hatte er sie schon beim Kirchgang und sie war auch der Hauptgrund, warum er in die Kirche ging. Es war wohl in dieser Zeit, in der er gedankenverloren die eine Fliese etwas schief an die Wand klebte. Es kam, wie es kommen musste, die zwei traten vor den Altar. Das Geld war immer knapp und Elfriede hatte alle Hände voll zu tun mit Haus, Garten und Kleinvieh. Die Freude war groß, als Erika wie das Jesuskind an Weihnachten geboren wurde. Elfriede und die Schwiegereltern kümmerten sich um sie, aber die Mittel wurden immer knapper. So reichte es zu ihrem fünften Geburtstag gerade so für eine Blockflöte, mit der sie fortan alle beglückte.


Autor*in: Wolfgang                    Blog: Don Esperanza’s ramblings


Adventüden 2023 12-15 | 365tageasatzaday

Quelle: Pixabay, Bearbeitung von mir

Zum Thema Inhaltshinweise/CN/Triggerwarnungen in den Adventüden bitte hier lesen.

Nachdem viele Teilnehmer*innen und Leser*innen das Fetten der vorgegebenen Wörter als störend empfunden haben, wurde darauf verzichtet. In einem Text, der maximal 300 Wörter umfassen durfte, waren (mindestens) drei der folgenden fünfzehn Begriffe zu verwenden:

Adventsgedöns, Ballermann, Blockflöte, Budenzauber, Geisterstunde, Kerzengeknister, Kirchgang, Kokolores, Morgennebel, Nudelholz, Schale, Silber, Terminator, Winterschlaf, Wunschzettel.

Dieser Text erschien zuerst im Rahmen der Adventüden 2023, einem Projekt von »Irgendwas ist immer«.