Vom Schmerz

 

XVII

Weltenweiter Wandrer
walle fort in Ruh …
also kennt kein andrer
Menschenleid wie du.

Wenn mit lichtem Leuchten
du beginnst den Lauf,
schlägt der Schmerz die feuchten
Augen zu dir auf.

Drinnen liegt – als riefen
sie dir zu: versteh! –
tief in ihren Tiefen
eine Welt voll Weh …

Tausend Tränen reden
ewig ungestillt,
und in einer jeden
spiegelt sich dein Bild!

(Rainer Maria Rilke, Weltenweiter Wanderer, XVII, aus: Traumgekrönt, 1897, Online-Quelle)

 

Wer einmal einen tiefen Schmerz erlitten,
Ist nicht mehr jung. Bis dahin war er’s,
Und hätte silberweiß sein Haar bereits
Den tiefgebeugten Scheitel ihm umglänzt.

Wer zählt die Jahre, wenn er glücklich ist?
Er lebt und weiß nicht, daß er lebt.
Der Schmerz erst ist die Grenze, wo wir weinend
Zurück und schaudernd vorwärts blicken.

(Ferdinand von Saar, Wer einmal einen tiefen Schmerz erlitten, aus: Kaiser Heinrich IV., Dramatisches Gedicht in zwei Abteilungen, 2. Teil „Heinrichs Tod“, Online-Quelle)

 

Überwintern

Das Moos, es bleibt,
wenn all die Blumen schon gestorben,
tief unter Schnee noch unverdorben.
Wie ähnlich ist es mir!

Tief lag ich unter Gram.
Viel schwere Jahre lang,
und als mein Winter kam,
da stand ich unverwelkt
und fing erst an zu grünen.

(Anna Louise Karsch, Überwintern, möglicherweise aus: „Mein Bruder in Apoll“: Briefwechsel zwischen Anna Louisa Karsch und Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Online-Quelle, dort verm. Überschrift ergänzt)

 

Quelle: Pixabay

 

Ja, ist ein Bruch zur Fröhlichkeit der letzten Wochen. Neee, alles gut, nur ist mein Mai nie uneingeschränkt heiter. Ich hätte gern ein paar schöne „Mutter“-Gedichte eingestellt, finde aber alle (mit einer Ausnahme, und die habe ich schon) unerträglich.

Kommt gut in die neue Woche und gebt acht, wem ihr zu nahe kommt!

 

8 Kommentare zu “Vom Schmerz

  1. die beiden letzten Zeilen des Gedichtes der Karsch habe ich etwas umgeformt:
    da stand ich zwar verwelkt
    mit Mut doch neu zu grünen
    Petrus hat die Schleusen passend zu diesem Erinnerungstag geöffnet.
    Ich sende Dir einen lieben Gruß, liebe Christiane und ab Ende der Woche komme ich wieder zurück ins Blogland.

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  2. Ach du je, schnüff, voll uf de zwölf, der Tucholsky zum Muttertag, wenn ich das mal so sagen darf. Ich bin allerdings auch gerade sehr nah am Wasser gebaut. Die anderen drei tragen auch nicht unbedingt zur Erheiterung bei… schön sind sie trotzdem, jedes auf seine Weise. Leben halt.
    Liebe Grüße!

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    • Der Tucholsky … wenn man ihn nicht kennt, muss man ihn unbedingt mal gelesen haben, das finde ich auch. Aber glaub mir, das ist die rühmliche Ausnahme von allem, was man diesbezüglich zitieren darf. 😏
      Ja … Leben halt. Morgen ist es wieder anders. 😉
      Liebe Grüße und danke!
      Christiane 😁🍷👍

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  3. Mir kam Goethes Lied des Harfners in den Sinn, ist zwar sehr bekannt, oft verballhornt worden, aber für mich immer noch tief berührend.

    Wer nie sein Brot mit Tränen aß,
    Wer nie die kummervollen Nächte
    Auf seinem Bette weinend saß,
    Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte.

    Ihr führt ins Leben uns hinein,
    Ihr laßt den Armen schuldig werden,
    Dann überlaßt ihr ihn der Pein;
    Denn alle Schuld rächt sich auf Erden.

    Aus: Wilhelm Meisters Lehrjahre,
    Band 1, 2. Buch (Erscheinungsdatum 1795/96)

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    • Darauf habe ich keine Antwort, liebe Gerda. Es ist halt wie es ist … und wir müssen damit leben und unser Bestes daraus machen.
      Liebe Grüße
      Christiane 😉🍷👍

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  4. Schwierig, über Schmerz zu schreiben und schwierig, das rauszusuchen, was am meisten anspricht, liebe Christiane.
    Ich bin geneigt, Herrn von Saar den Vorzug zu geben, aber ich schwanke und denke auch an das Moos, das unter dem Schnee grünt und sich dabei nicht beirren läßt…
    Liebe Grüße von Bruni in die neue Woche

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    • Ja, kein leichtes Thema, liebe Bruni, aber es hat mich erwischt, als ich über die Gedichte nachdachte … Und ja, ich bin auch für die Beharrlichkeit des Mooses.
      Schönen Abend dir noch!
      Liebe Grüße
      Christiane 🙂

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