Von Städten und Abenden

Man soll in keiner Stadt

Man soll in keiner Stadt länger bleiben als ein halbes Jahr.
Wenn man weiß, wie sie wurde und war,
Wenn man die Männer hat weinen sehen
Und die Frauen lachen,
Soll man von dannen gehen,
Neue Städte zu bewachen.

Läßt man Freunde und Geliebte zurück,
Wandert die Stadt mit einem als ein ewiges Glück.
Meine Lippen singen zuweilen
Lieder, die ich in ihr gelernt,
Meine Sohlen eilen
Unter einem Himmel, der auch sie besternt.

(Klabund, Man soll in keiner Stadt, aus: Morgenrot! Klabund! Die Tage dämmern!, 1913, Online-Quelle)

Die Stadt

Am grauen Strand, am grauen Meer
Und seitab liegt die Stadt;
Der Nebel drückt die Dächer schwer,
Und durch die Stille braust das Meer
Eintönig um die Stadt.

Es rauscht kein Wald, es schlägt im Mai
Kein Vogel ohn Unterlaß;
Die Wandergans mit hartem Schrei
Nur fliegt in Herbstesnacht vorbei
Am Strande weht das Gras.

Doch hängt mein ganzes Herz an dir,
Du graue Stadt am Meer;
Der Jugend Zauber für und für
Ruht lächelnd doch auf dir, auf dir,
Du graue Stadt am Meer.

(Theodor Storm, Die Stadt, aus: Gedichte (Ausgabe 1885), Online-Quelle)

Siehst du die Stadt?

Siehst du die Stadt, wie sie da drüben ruht,
Sich flüsternd schmieget in das Kleid der Nacht?
Es gießt der Mond der Silberseide Flut
Auf sie herab in zauberischer Pracht.

Der laue Nachtwind weht ihr Atmen her,
So geisterhaft, verlöschend leisen Klang:
Sie weint im Traum, sie atmet tief und schwer,
Sie lispelt, rätselvoll, verlockend bang …

Die dunkle Stadt, sie schläft im Herzen mein
Mit Glanz und Glut, mit qualvoll bunter Pracht:
Doch schmeichelnd schwebt um dich ihr Widerschein,
Gedämpft zum Flüstern, gleitend durch die Nacht.

(Hugo von Hofmannsthal, Siehst du die Stadt?, aus: Die Gedichte 1891–1898, entstanden 1890, Erstdruck aus dem Nachlass 1930, Online-Quelle)

Die Nacht wächst wie eine schwarze Stadt

Die Nacht wächst wie eine schwarze Stadt,
wo nach stummen Gesetzen
sich die Gassen mit Gassen vernetzen
und sich Plätze fügen zu Plätzen,
und die bald an die tausend Türme hat.

Aber die Häuser der schwarzen Stadt, –
du weißt nicht, wer darin siedelt.

In ihrer Gärten schweigendem Glanz
reihen sich reigende Träume zum Tanz, –
und du weißt nicht, wer ihnen fiedelt …

(Rainer Maria Rilke, Die Nacht wächst wie eine schwarze Stadt, aus: Mir zur Feier/Im All-Einen, 1899, Online-Quelle)

 

Quelle: Pixabay

 

Ja, es ist vieles dunkel. Es geht uns allen so, jedenfalls kommt es mir so vor. Kommt gut und heil (und gesund!) in und durch die neue Woche!

 

55 Kommentare zu “Von Städten und Abenden

  1. Da mache ich ja wohl etwas falsch. Ich bin länger los ein halbes Jahr in der Stadt, möchte ber auch nicht mehr weg. Schöne Auswahl wieder einmal
    Liebe Grüße Monika

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    • Als Klabund das schrieb, war er Anfang zwanzig, das fällt also irgendwie unter „Sturm und Drang“ 😉. Bei mir hat sich das auch gelegt, aber als ich in dem Alter war, bin ich gefühlt jedes Jahr umgezogen, ich glaube, ich kenne das Gefühl … 🤔😏
      Morgenkaffeegrüße! 😁❄️☕🍪🍁👍

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  2. Stadtgeschichte:
    du ehemaliges sippendorf
    machtest uns tragisch-schön sesshaft
    locktest mit bewacht-umzäuntsein
    drinnen wachten gute götter
    wir teilten essen am feuer
    korn wuchs wir wuchsen
    bis feuerkreise nicht alle mehr gleich wärmte
    wurdest einfach zum dorf an der herrscherburg
    warst seins aber bewacht
    herrscher und götter wechselten
    mit unglaublichen mauern und burgen
    dann stürzten burgen
    wurdest stadt ohne herrscher
    ohne götter
    in zu engen mauern
    die neuen götter? – die pure größe –
    millionenstädte
    um dich kreisen nun
    völker staaten politik religion
    künste wissenschaft
    alle geboren aus in und um dich
    du häßlichschöne inklusivität
    an dir ist nun alles design
    richtest blicke auf und demütigst sie
    dafür haben wir geopfert:
    die blicke für dorf wald tier
    nahmen für alles um uns herum
    den schwamm
    du bist nun unsere wüste
    bald werden wir mit dir
    schwimmen
    doch auch wenn wir gehen
    du bleibst
    du lebst vom auffallen
    damit wir auffallen wenn wir sagen:
    wir wohnen unbezahlbar in XY

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  3. Es ist nicht nur dunkel, es ist auch noch Montag! 😉

    Eine vielfältige Auswahl hast du da heute getroffen, inklusive des norddeutschen Klassikers über die „graue Stadt am Meer“, die ja eigentlich – so habe ich mir sagen lassen – so grau nun auch wieder nicht sein soll.

    Bei der Überschrift „Von Städten und Abenden“ dachte ich übrigens spontan an Georg Heyms „Der Gott der Stadt“. Hätte thematisch ebenfalls gepasst, ist aber aus meiner Sicht deutlich unzugänglicher und sperriger als die getroffene Auswahl. 🙂

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    • Ja, den hatte ich auch im Hinterkopf, aber trotz seiner Bildergewalt habe ich mich dann dagegen entschieden: Zu sehr Krieg, Feuer, drohende Zerstörung. Und schwierig zu kombinieren, wenn man sich nicht in die Stimmung fallen lassen will.
      Husum ist nordfriesisch karg, das ja, aber nicht grau, ich war über die Jahre öfter dort und kann es empfehlen 😁⛵
      Komm gut in und durch die Woche! 🌞
      Vormittagskaffeegrüße 😁🌤️🍁☕🍪👍

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  4. Guten Morgen, liebe Christiane, nur manchmal habe ich Sehnsucht nach einer großen Stadt. Gerdae jetzt bin ich froh auf dem Land zu sein, auch wenn es manchmal einsam ist.
    Danke für diese tolle Auswahl.
    Ich schicke dir ein paar Sonnenstrahlen, die erhellen das Gemüt.
    Liebe Grüße, Ulli

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    • Die Sonne hat sich heute auch schon hier blicken lassen, liebe Ulli, aber kalt ist es, drüben auf dem Schulhof schreien die Kinder in der Pause und die Katze schläft … 🐈
      Friedliche Wochenanfangsgrüße aufs Land! 😁🌤️🍁☕🍪👍

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  5. Klabund spricht mir aus der Seele.
    Ich weigere mich einfach, irgendetwas dunkel zu sehen. Noch jedenfalls.😉
    Liebe Mittagsgrüsse ab Dich☕️🍩😀🍁

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  6. Auch ich möchte deine Auswahl wieder loben. Falls du noch eine Reihe mit Stadt-Gedichten machst, hätte ich Kavafis „Die Stadt“ als Vorschlag – quasi als Gegenstück zu Klabund. Ist freilich kein deutschsprachiges Gedicht. In meiner wörtlichen Übersetzung:
    Du sagtest, „Zu anderer Erde werde ich gehen, zu anderen Meeren. / Eine bessere Stadt wird sich finden als diese hier, / allen meinen Anstrengungen ist das Scheitern bestimmt, / und ist mein Herz – wie tot – begraben. / Bis wann wird mein Verstand in diesem Verfall aushalten. / Wohin sich mein Auge wendet, wohin ich auch blicke, / Schwarze Ruinen meines Lebens sehe ich hier, / wo ich so viele Jahre verbracht und ruiniert und verschwendet habe.“
    Neue Orte wirst du nicht finden, nicht finden andere Meere. / Die Stadt wird dir folgen. In denselben Straßen / Wirst du herumgehen. In denselben Nachbarschaften wirst du altern / Und in eben diesen Häusern wird dein Haar weiß werden. / Immer wirst du in dieser Stadt ankommen. Auf das Woanders – hoffe nicht – / Kein Schiff gibt es für dich, keinen Weg. / So wie du dein Leben hier ruiniert hast, / in dieser kleinen Ecke hier, hast du es auf der ganzen Erde verdorben.

    https://gerdakazakou.com/2015/12/06/lyrik-am-sonntag-noch-einmal-kavafis-die-stadt/

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    • Ja, so ist das wohl, liebe Gerda: Man nimmt sich mit, wohin man auch geht. Die Änderung der Umgebung hilft nur kurzfristig … Man könnte entgegnen, dass eine neue Stadt neue Möglichkeiten eröffnet (tut sie bestimmt), aber dazu muss demjenigen klar sein, dass dass er etwas hat, was aufgelöst werden muss …
      Danke dir, das ist eine sehr beeindruckende Übertragung, liest sich sehr wortgewaltig. Wenn ich noch mal Stadtgedichte mache, komme ich darauf zurück. Weißt du vielleicht, wann das Gedicht in etwa entstanden ist? 😁👍
      Nachmittagskaffeegrüße 😁🌤️🍁☕🍪👍

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  7. Das Klabund-Gedicht ist es heute, auf jeden Fall, obwohl es komplett gegen mein eigenes Erleben spricht. Je länger ich irgendwo bin, desto lieber habe ich es. Und freiwillig umziehen habe ich gerade gemacht, das kommt hoffentlich in den nächsten Jahren nicht wieder vor. 😊 Die graue Stadt mag ich auch sehr, das ist ein von DIESEN Gedichten. Den Schimmelreiter habe ich nicht gelesen – sollte ich?
    Nachmittagsgrüße! 😊

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  8. Ach, sind diese vier so gut.
    Wie gut hast Du wieder ausgesucht, liebe Christiane. Ich bin hin und weg.
    Hugo von Hofmannsthal s *Siehst du die Stadt* ist mir von den guten und schönen das liebste. Bei seinen Worten schmelze ich 🙂
    Es gibt so unendlich viele Stadtgedichte. Ich habe eben mal meinen Reclam-Band Großstadtlyrik durchgeblättert und fand so viele, die ich sehr mag, aber hier ging es Dir um Städte und Abende / Nacht?
    Mascha Kalékos *Spät nachts* ist auch ein ganz wundervolles Beispiel für Städte – Lyrik. Vermutlich kennst Du es.

    Liebe Grüße in den Abend von Bruni an Dich

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  9. Liebe Christiane,
    danke dir für diese Gedichte, die so gut in die Zeit passen.
    Mir hat es der Rilke angetan.
    „…reihen sich reigende Träume zum Tanz“ – was für ein schönes Bild, das da in mir auftaucht.
    Liebe Grüße
    Judith

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