Gedankenkarussell | abc.etüden

Sie war zutiefst traurig. Sie haderte mit sich. Sie war überzeugt, alles falsch gemacht zu haben, und gleichzeitig hätte sie nicht gewusst, wie sie anders hätte handeln sollen. Wieder mal.
Warum hatte sie eigentlich immer das schlechte Gewissen und die Schuldgefühle?
Warum putzten sich die anderen den Ärger und den Streit einfach von der Backe und taten so, als ob alles easy wäre?
Bluteten die nicht innerlich?
WAREN die einfach so abgebrüht?
Sie war hier falsch. Ihr ganzes Leben schon.
Gute Miene zum bösen Spiel, ha, voll ihr Ding, sich tot zu stellen. Emotional tot.
Sie hasste alle.
Wie oft konnte ein Herz eigentlich brechen?
Nur ein nettes Mädchen ist ein gutes Mädchen, und nett ist … na? Eben.

Sie stapfte blind vorwärts. Sie durchquerte den schönsten grünen Wald, die Sonne schien, die Vögel riefen ihren Namen, Spaziergänger grüßten freundlich.

Sie blieb steinern. Sie sah nichts, hörte nichts und verabscheute jeden. Sie hatte zugleich Angst vor allem, weil das irgendwie dazugehörte, denn wer würde sie schon lieben, wenn sie doch alle hasste? Bestimmt niemand! Niemals!

Sie stolperte, konnte sich gerade noch abfangen und saß plötzlich auf dem Waldboden. Neben ihr stand ein Fliegenpilz. Sie musterte ihn verdutzt. Ominös. War das das Zeichen, dass sie sich besser gleich umbringen sollte?

»Sei nicht so bescheuert«, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf.

Ihr Knöchel schmerzte wie Hölle. Das hatte jetzt gerade noch gefehlt!

»Darf ich mich vorstellen: dein Orientierungssinn.« Die Stimme seufzte. »Ich hätte ja gern früher eingegriffen, aber dieser Schlick, den du Gedanken nennst, war zu zäh. Du bist schon zweimal falsch abgebogen. Und jetzt musst du da vorne rechts, ohne Widerrede, sonst kannst du das Auto vergessen, und das findet dein Knöchel garantiert nicht so lustig!«

Sie humpelte los, sich innerlich verfluchend, und bis auf Weiteres vollständig im Hier und Jetzt.

 

abc.etüden 2021 36+37 | 365tageasatzaday
Quelle: Pixabay, Bearbeitung von mir

 

Für die abc.etüden, Wochen 36/37.2021: 3 Begriffe, maximal 300 Wörter. Die Wortspende stammt dieses Mal von Ludwig Zeidler. Die Wörter lauten: Schlick, ominös, putzen.

Nein, das ist nicht sehr autobiografisch. Ich meine, natürlich kenne ich Gedankenkarusselle, wer nicht, aber meine sehen anders aus. Tatsache ist dagegen, dass ich mich am Sonntag bei bestem Wetter im Wald wirklich zweimal verlaufen und (nicht nur) einen Fliegenpilz gesehen habe – allerdings ohne die erwähnte Assoziation. Und da angekommen, wo ich hingewollt habe (ohne Stolpern), bin ich schließlich auch, wobei ich der Meinung bin, dass der Weg eklatant schlecht ausgeschildert ist/war. Aber hübsch. Sehr hübsch. Ich beabsichtige zu berichten.

 

49 Kommentare zu “Gedankenkarussell | abc.etüden

  1. Liebe Christiane, ob nun autobiografisch oder nicht, die Gefangenheit, die wohl jeder von uns kennt, in diesen Gedankenkarussellen, hast du wunderbar auf den Punkt gebracht. Bei manchen ist es eher ein Kettenkarussell, bei anderen bleibt es ein Leben lang das Feuerwehrauto, Pferd oder der Schwan auf dem Kinderkarussell, bei den dritten ist es eine Achterbahn und bei noch anderen ein Spiegelkabinett, in dem sie sich eine blutige Nase holen.
    Du bringst mich darauf, dass der Vergleich des Lebens mit einem Jahrmarkt (der Eitelkeiten) gar nicht weit hergeholt ist. Danke für diese Guten-Morgen-denk-mal-nach-Etüde🙂☕🥐.
    Heute früh auch mit Kaffeegrüßen, Anja

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    • Moin Anja, wenn man vor sich selbst erst zugeben kann, dass man (auch) eitel ist, ist es leichter, eventuell zwischen Gekränktheit und Verletztheit zu unterscheiden. Natürlich darf man (auch) eitel sein, aber es hilft, wenn man in Gedankenblasen festsitzt, dass man erkennt, ob einem da „nur“ jemand aufs Ego getreten ist oder ob mehr dahintersteckt. Selbstwahrnehmung, Fremdeinschätzung, das alte Spiel.
      (Ich liebe übrigens Kettenkarussells.) 😁
      Morgenkaffeegrüße mit beleidigter Kaffeemaschine 😉🤬⛅🌻🌳☕🍪👍

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      • Wäre zu klären, warum deine Kaffeemaschine beleidigt ist: hast du sie in ihrer Eitelkeit verletzt😁?
        Ja, wir sind schon merkwürdige Wesen. Obwohl ein gewisses Maß an Eitelkeit zu jedem Leben dazugehört (sonst könnten wir hier ja auch sofort unser Schreiben einstellen, auch der Wunsch nach Anerkennung geht ja oftmals mit etwas Eitelkeit einher), mögen wir sie nicht.
        Aber wir lieben es mitunter, bei Anderen in dieser Eigenschaft herumzustochern…
        Ehe ich jetzt zu philosophisch werde, fahre ich mal schnell zur Arbeit📚.
        Gruß, Anja

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        • Sie plädiert auf Vernachlässigung durch Nichtentkalken, und ich hoffe, ich konnte sie besänftigen und den Kalk des Anstoßes entfernen 😁
          Eitelkeit zählt zu den Todsünden (kath. Kirche), glaube ich, daher ist es logisch, dass sie eine schlechte Presse hat, unsere Kultur ist so geprägt. Nun müsste man sich in die Definition vertiefen, sie von (gesunder) Selbstliebe abgrenzen etc. etc. Hast recht, das sind philosophische Diskussionen, und die dauern. Also wünsche ich dir lieber einen schönen Arbeitstag 😁
          Fröhlichere Morgenkaffeegrüße 😁☕👍

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  2. Schön, eine Etüde gestern Abend und nun eine am Morgen.
    Ich glaube ja, dass der Fliegenpilz da stand, da er ein Glückssymbol ist. Jetzt war Zeit für ihre Wut und Versteinerung, aber bald hört sie die Vögel wieder, die ihren Namen rufen und ihr Orientierungssinn (dem Leben gegenüber) ist da, der lässt sich nicht verbuddeln. 🙂
    Liebe Grüße am Morgen von einer, die Fliegenpilze mag 🍄

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    • Ich mag Fliegenpilze auch total, und ich habe wirklich viele gesehen, auch bereits vergehende …
      Ich hoffe auch, dass sie bald einen anderen Weg einschlagen kann, einen, der sie mehr ins Leben führt, denn sie verrennt sich eigentlich gerade ziemlich … wäre der Orientierungssinn Orientierungssinn nicht, natürlich 😁
      Morgenkaffeegrüße mit streikender Kaffeemaschine 😉🤬⛅🌻🌳☕🍪👍

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  3. Gefällt mir, so alltäglich und ohne Extradramatik. Meistens sind wir ja nicht sooo verbohrt, aber es kommt vor, da sehen wir dann tatsächlich nichts vom Wald, durch den wir tapsen, und eine Bodenvertiefung wird zum Fallstrick. Wäre der Schmerz nicht (unser Freund und Helfer) , ich glaube,wir würden uns in dieser Welt noch ein wenig mehr verirren.

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  4. Toll!

    So etwas kenne ich auch.

    Ich hatte mal mit meiner damaligen Freundin mein Auto in Frankfurt abngestellt, in einer Strasse unweit der Schirn.
    Als ich in die Strasse zurückkam, konnte ich es nicht entdecken, obwohl ich in besagter Strasse war – und auch die Führung der Strasse genauso aussah, wie gemerkt – all die Einbuchtungen, Geschäfte…
    ich war ratlos.

    Ohne weitere Überzeugung ging ich über eine breite Strasse hinweg und da wiederholte sich das Muster der Strasse exakt so wie zuvor – und mein Auto in Sichtweite…

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    • Grins. Ja, danke, geht so ein bisschen in die Richtung von „Im Wald sehen alle Bäume gleich aus“?
      Das kann einem im Stadtdschungel allerdings wirklich auch passieren 😁, vor allem, wenn man sich nicht auskennt und/oder Probleme hat, sich zu orientieren, das ist wahr. 🤔😉
      Vormittagskaffeegrüße 😁🌤️🌻☕🍪👍

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  5. Der Wald als Ort der Selbsterkenntnis hat ja Tradition. Sie ist aber wohl noch beim Selbsthass und allgemeinen Weltschmerz. Da wäre es hilfreich, wenn der Orientierungssinn nicht nur für räumliche Orientierung zuständig wäre 😉
    Die drei Wörter hast du meisterlich untergebracht. Ein dicker Pluspunkt für die Etüden 😉

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    • Ach, guck mal, an den symbolischen Wald hatte ich gar nicht gedacht, DER Teil war autobiografisch 😉, ich stand echt im Wald 🌳🌲🌳🌲. Aber ja, Orientierung zu haben, schadet nie 😁, sowohl wörtlich wie im übertragenen Sinne 😉👍
      Und auch ja, sie dümpelt emotional total in allen möglichen Untiefen, meine Protagonistin.
      Herzlichen Dank für das Kompliment, ich bemühe mich 🧡👍
      Vormittagskaffeegrüße 😁🌤️🌻☕🍪👍

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    • Schlick ist für mich undurchsichtig und zäh, jedenfalls als spontane Assoziation. Ich war über die Brücke zu den Gedanken auch ganz happy 😉
      Ich wate bei meinen Überlegungen bezüglich einer weiteren Etüde auch schon gedanklich durchs Wattenmeer. Vielleicht stellt sich bei dir ja noch was ein 🤔😉
      Danke dir! 👍
      Vormittagskaffeegrüße 😁🌤️🌻☕🍪👍

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    • Videospiele finde ich total verwirrend 😉👍
      Aber draußen habe ich tatsächlich ein Gefühl dafür, wo ich bin bzw. wie ich mich zurechtfinde. Schön, ich habe auch Karten und Gugl Maps, was mir im Wald meist nicht wirklich hilft (Letzteres) 😁, aber würde ich das personifizieren, käme so was dabei heraus, alles in allem. Man muss das trainieren, und ich bin dabei 😉
      Mittagskaffeegrüße oder so 😁🌤️🌻☕🍪👍

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  6. Super geschrieben! Gefällt mir sehr! Gedanken und daraus folgende Emotionen können wirklich zu einer Art „Schlick“ werden, der sehr schwer wieder abzustreifen ist. Was die betreffenden Emotionen verstärkt. Und damit dann auch wieder den Schlick … . Ein Teufelskreis, aus dem manchmal wirklich Schmerz heraushelfen kann, indem er eine neue Orientierung ermöglicht. (Und manchmal hilft vielleicht auch Glück, für den ja für mich ein Fliegenpilz steht…) 😊🍀

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    • Um aus einem Teufelskreis auszubrechen, braucht es ein Ereignis, das stark genug ist, diesen Teufelskreis aufzubrechen, ganz, ganz abstrakt formuliert. Und das ist nun mal sehr häufig Schmerz, physischer oder seelischer, leider. Kann funktionieren, muss aber nicht, hier holt er meine Protagonistin aber wenigstens erst mal heraus und bringt sie auf andere Gedanken. 😁
      Fliegenpilze mag ich auch 🧡🌳

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  7. Beneidenswert die, an denen jede Kritik, jeder Vorwurf einfach abprallt, aber ob sie die besseren, die sympathischeren Menschen sind?
    Der Orientierungssinn ist glaube ich eine ganz eigene Begabung,vielleicht vergleichbar mit Musikalität. Mit Intelligenz hat er offensichtlich wenig zu tun. Ich kenne kluge Menschen, die sich im eigenen Stadtteil verirren und andere wie meine als geistig behindert geltende Tochter, die schon als Fünfjährige die samt Erzieherin verirrte Kitagruppe wieder aus dem Wald lotste.

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    • Besser oder schlechter, wer würde das entscheiden wollen? Ich ganz sicher nicht. Ich finde, dass sie kräftig übertreibt, aber macht sie das unsympathisch? Wenn sie der Meinung wäre, ihre Probleme seien auf der Welt am wichtigsten, würde ich ihr entgegentreten, so aber ist sie nur eine unglückliche junge Frau in einer besch…eidenen Lage. 🤔
      Und dass Orientierungssinn etwas mit Intelligenz zu tun haben könnte, auf die Idee bin ich noch nie gekommen. Ich habe zufällig welchen, deine Tochter auch, andere nicht. Dafür halte ich mich nicht für sonderlich musikalisch. Ja, und? 🤔😉
      Grüße zur guten Nacht 😁🥱😴🍷✨👍

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  8. Eine klasse Geschichte, liebe Christiane, Du kennst solche Gedanken? Hätte ich gar nicht gedacht, dachte immer, nur ich würde so kurios denken und mir an allem selbst die Schuld geben…
    Wie gut, daß Dein Orientierungssinn sich meldete, meiner meidet mich manchmal und es gibt Menschen, die meinen, wenn man mich an einer Stelle im Wald aussetzen würde, käme ich nie mehr raus 🙂
    Stimmt aber nicht, ich denke nur ein bissel anders und habe andere Punkte, an denen ich mich orientiere…

    Ich habe drei Tage Blogpause gemacht, *mußte* eine kleine Reise reisen und bin nun wieder da.

    Liebe Grüße in die Nacht von Bruni

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    • Ich habe mich schon gewundert, wo du abgeblieben bist, liebe Bruni, und hatte gedacht, du seist vielleicht in Urlaub. Schön, dass du wieder da bist! 🤔😉
      Orientierung: Wichtig ist, dass du dir helfen kannst oder nie alleine irgendwohin gehst 😉 Die meisten merken sich in der Stadt z. B. irgendwelche Gebäude und bestimmen daran, wo sie sind. Das ist im Wald natürlich komplizierter, Bäume sehen sich oft so ähnlich 😁 – auf den ersten Blick.
      Kannst du beschreiben, wie du dich orientierst?
      Morgenkaffeegrüße 😉🥱☁️☕🍪👍

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      • Drei Tage Basel und Freiburg. Drei Ta ge, vollgepackt mit Aktivität. Nun bin ich ein wenig müde und natürlich im Hintertreffen was eigene Beiträge und Kommentiern betrifft, aber es war wichtig und hat Freude gemacht, auch wenn der Rücken meinte, er müßte meckern. 🙂
        Ich wollte so gerne mal wieder ins Kunstmuseum in Basel und es war schon ein Erlebnis, die vielen wundervollen Gemälde von Camille Pissarro ansehen zu können.

        Ich merke mir in Städten wie alle bestimmte markante Gebäude. Im Wald ist es ganz anders. Es gibt zwar Anhaltspunkte, wie z.B 4 dicke sehr hohe Mammutbäume nebeneinander, aber immer hat man die ja nicht und den, den man mal umarmte, der sagt einem den weiteren Weg auch nicht 🙂
        Wegweiser sind traumhaft, aber immer gibts die halt nicht…

        Ganz herzlich, Bruni

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        • Es gibt so Tage, da muss man mal raus und was anderes sehen, ich kann dich so gut verstehen, liebe Bruni.
          Gut, dass deine Gesundheit mitgespielt hat 😁👍
          Eilige Nachmittagskaffeegrüße! 😁🌤️🌻☕🍪👍

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  9. Pingback: Schreibeinladung für die Textwochen 38.39.21 | Wortspende von Werner Kastens | Irgendwas ist immer

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