Der Wiiinnnnnnnnnnnnnnnnd … hat mir ein Lied erzählt …«
Sie wusste selbst nicht, woher der Brechreiz kam, der sie so plötzlich überfiel, dass sie fast zu den Waschräumen rannte. Zum Glück war dies eines der Restaurants, wo jener Ort nicht mit Musik beschallt wurde. Sie klammerte sich am Waschbecken fest, schloss kurz die Augen, um nicht in den Spiegel sehen zu müssen, atmete tief durch und wartete ab.
Natürlich war es die Stimme, war es der Mann, der diese Stimme so verehrt hatte, der Mann, der in ihrem Leben so wichtig gewesen war und der sie so verraten hatte, dass ihr Körper gegen die bloße Erinnerung aufbegehrte. Jetzt hielt sie es aus, dass sie überschwemmt wurde. Wortlos. Ruhig.
Sie spürte bittere Tränen aufsteigen, fühlte ein Begreifen und schluckte. Als sie aufsah, hatte sich etwas verändert. Das sonst so anschmiegsame Kätzchen musterte sie mit den glühenden Augen einer Furie und klarem Blick. Na, super, dachte sie fast unbeteiligt. Ebenso war die Gewissheit neu, dass diese Frau wusste, wie man Z-O-R-N buchstabierte, vielleicht sogar U-N-V-E-R-S-Ö-H-N-L-I-C-H-K-E-I-T.
Sie konnte tun und lassen, was sie wollte, sie musste nicht immer alles und jeden verstehen und, viel schlimmer noch, entschuldigen.
Es war ihr verdammtes Recht.
Ich hatte mich eingesperrt, begriff sie.
Sie würde nachdenken müssen.
»Alles in Ordnung, Schatz?«, erkundigte sich ihr Begleiter besorgt, als sie zum Tisch zurückkam.
Sie wollte zuerst spontan bejahen, überlegte es sich aber dann. »Macht es dir etwas aus, wenn wir aufbrechen? Ich glaube, mir würde jetzt etwas frische Luft guttun. Lass uns ein paar Schritte gehen.«
»Selbstverständlich.« Er winkte dem Kellner.
Nach kurzer Zeit traten sie nach draußen, und er legte fürsorglich seinen Arm um sie.
»Besser?«, fragte er. Sie nickte und lächelte, und sie schritten gemeinsam davon. Der Abend war mild. Die Musik hörte man nur noch von Weitem.
Quelle: Pixabay, Bearbeitung von mir
Für die abc.etüden, Wochen 36/37.2022: 3 Begriffe, maximal 300 Wörter. Die Wortspende stammt dieses Mal von Ludwig Zeidler, dem Etüdenerfinder, der nicht mehr bloggt. Sie lautet: Brechreiz, anschmiegsam, buchstabieren.
Ebenso ist dies mal wieder ein Beitrag zu Myriades Impulswerkstatt, von der ich mir die beiden „Halbrahmen“ am Anfang und am Ende ausgeliehen habe.
Und last but not least ist das hier das Lied, das sich als Ohrwurm einnistete und das ich mit dieser Etüde hoffe, aus meinem Kopf zu bekommen:
Zarah Leander: Der Wind hat mir ein Lied erzählt (Link zu YouTube)
Ich verstehe nicht, warum scheinbar alle so auf diese Stimme geflogen sind, aber muss ich ja auch nicht.
Ich denke, es ist weniger die Stimme, sondern eher der Text des Liedes, der die Sehnsucht anklingen lässt. Genauso wie später bei Dahlia Lavi oder Joan Baez. Da werden Resonanzen in der “Seele“ wach.
Deine Geschichte gefällt mir, sie klingt so lebensecht und nachvollziehbar.
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Damit könntest du natürlich auch recht haben, lieber Werner, wobei ich mir hier den Klang vorgestellt hatte. Ist vielleicht auch die Frage, ob mensch sich über das Ohr oder über den Text (welcher Sinn ist das?) erinnert, und ob das nicht sogar individuell ist. Ich weiß es nicht.
Freut mich, dass du die Geschichte lebensecht findest, so sollte sie daherkommen. Danke!
Morgenkaffeegrüße ☁️🌳☕🍪🌼👍
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Huch, der Ohrwurm ist in Lichtgeschwindigkeit bei mir angekommen, derrrrr Wiiiiiiiiiind 🙂
Mein Kompliment, diese Geschichte passt sowas von perfekt zwischen die Rahmen! Außerdem erinnert sie mich an ein Lokal in meiner Nähe: auf dem Damenklo hört man Vogelgetwitscher und bei den Herren Meeresrauschen.
Die Moral von der Geschicht´gefällt mir auch sehr gut: bei aller Nächstenliebe und Rücksichtnahme darf man sich selbst auch nicht vergessen, was über Umwege letztlich auch wieder anderen zugute kommt. Dass die Protagonistin diese Erkenntnis auch gleich in die Tat umsetzt, in 300 Wörtern, finde ich sehr gelungen.
Und schließlich freue ich mich, dass du wieder einmal in der Impulswerkstatt dabei bist. Danke für diesen Beitrag, der beiden Projekten absolut gerecht wird!
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Das mit der Musik auf den Toiletten machen viele, ich finde das prinzipiell gar nicht so unsympathisch.
Was die „Moral“ angeht, so habe ich mich früher lange mit der radikaleren Formulierung herumgeschlagen, dass jemand, der sich selbst nicht liebt, auch keinen anderen lieben kann. Leider ist bei mir früher angekommen, dass Selbstliebe egoistisch sei, daher ist das eine, wie ich finde, schwierig zu ziehende Grenze … 🤔
Ich freue mich auch über deine Halbrahmen, die sprangen mich förmlich an. Vielleicht wird es ja auch mal wieder mit einem von den Bildern was.
Schön, dass du den Ohrwurm jetzt hast, dann kann ich ihn ja loslassen 😎😉
Vormittagskaffeegrüße ☁️☕🍪🌼👍
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Ja, ja, die Sache mit der mangelnden Selbstliebe ist ein Problem des christlichen Westens. Es gibt sicher Situationen, in denen Selbstliebe und Egoismus verschwimmen aber auch solche, in denen die Sache ganz klar ist. Dieses typisch weibliche Verhalten, es allen recht machen zu wollen und selbst prinzipiell immer zurückzustecken, ist auf die Dauer ungesund.
Den Ohrwurm habe ich mit einer Tafel um den Hals mit „wer will mich?“ auf den Weg geschickt 🙂
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Ja, christlich, ich weiß. Ich habe auch schon öfter gelesen, dass das falsch verstanden christlich sei, aber es bleibt schwierig, wenn man sich aus so etwas erst herausarbeiten muss.
Dann wünsche ich dem Ohrwurm einen guten Weg! 😉🎶
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Ich kenne das wieder einmal vom Buddhismus. Es gibt Meditationsübungen, bei denen man anderen Leuten, zuerst den Freunden dann den Feinden freundliche Gedanken schickt. Bei den westlichen Schüler*innen beginnen die Übungen immer damit, sich selbst freundliche Gedanken zu schicken. Aus gegebenem Anlass …..
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Interessant! Spannend, was leichter bzw. gar nicht gelingt und was dabei rauskommt, wenn man über die möglichen Gründe nachdenkt … 🤔😉👍
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Ja, solche Übungen lassen oft tief blicken
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Mediationsübungen, wenn sie nicht nur medizinischen Zwecken dienen, sind meist hintersinnig 😉
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Oh ja. Es läuft aber so viel unter Meditation, was gar nix damit zu run hat…
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Schön, ich könnte jetzt ankommen mit: Wer definiert denn, was Meditation ist etc. etc., aber ich denke, das ist müßig, das ist mit so vielem so, dass das Feld irrsinnig breit ist … 🤔
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Naja, ich würde sagen, dass schon diejenigen, die eine Sache erfunden haben, definieren können, was das ist. Man kann ja differenzieren ZB buddistische Meditation, christliche Meditation, esoterische „Meditation“ …
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Ja, ich habe kein Problem mit Differenzierungen. Manchmal sind gewisse Regeln und oder Eckpunkte durchaus sinnvoll. Profis nach vorn.
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Eine gut nachvollziehbare Geschichte, die mich sehr an die Geschichte in meinem inzwischen ausgelesenen Buch über die sprechende Katze, obwohl die natürlich etwas anders war, erinnert, liebe Christiane.
Das andere Gesicht, das wir bisher nicht kannten, bei einem liebsten Menschen?
Ganz herzlich, Bruni
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Ich habe das mit Absicht offen gelassen, wer das andere Gesicht trägt, liebe Bruni, danke für die Frage. Ich denke, es ist vieles möglich, auch sie selbst …
Spätmittagskaffeegrüße! ☁️☕🍪🌼👍
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Wir zeigen ja immer nur bestimmte Gesichter, die, von denen wir denken, daß sie in diesen Momenten die richtigen/angebrachtesten sind…
Wenn ich über alle meine Gesichter nachdenke, dann muß ich fast mein Bauchgefühl fragen, wie mein echtes ausschaut 🙂
Na ja, die Summe aller meiner Gesichter wird das echte sein…, oder?
Heute Nachmittag scheine ich ziemlich schwatzhaft zu sein … hm
Nur friedlich und lieb sind wir alle nicht, wir müssen auch mal zeigen, daß wir verletzt und sehr zornig darüber sind.
Fast hätte ich es vergessen, liebe christiane: Deine Etüde ist richtig gut!
Liebe Grüße von Bruni
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Das kannst nur du entscheiden, liebe Bruni, wer oder was du eigentlich bist. Man kann auch sein ganzes Leben eine Maske tragen, die Frage ist, was es mit einem macht.
Danke dir. Ich mag Texte, die ein Nachdenken anstoßen.
Nachmittagskaffeegrüße ☁️☕🍪👍
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Das ist Dir mit Deinem Text bei mir ziemlich gut gelungen, liebe Christiane 🙂
Ich trage höchst selten eine Maske, die würde mir nur die Luft zum Atmen nehmen 🙂
Liebe Grüße von mir
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Mit Verlaub, Bruni, wie ein unbequeme Kollege mal sagte: Jeder macht für sich eine Ausnahme. Soll heißen, jeder denkt: Die anderen vielleicht ja, aber ich doch nicht …
Ich will dir keineswegs auf die Füße treten, vielleicht bist du ja die berühmte Ausnahme, wir kennen uns schließlich nicht persönlich. Aber ich zum Beispiel bin keine (Ausnahme), und ich ziehe daher meine lieben Mitmenschen häufig in Zweifel 🤔😉
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🙂 wenn Maske, dann bei Menschen, die ich nicht mag…
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Logisch. Das war kein Ansinnen, dich irgendwie zu erklären, und keiner (außerhalb der engen Familie, sage ich mal) hat das Recht, etwas zu fordern, es sei denn, du würdest es einräumen. 😉👍
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Mir gefällt besonders, dass ein so unbestimmter Zeitraum verging, bis das Lied diese Gefühle wachrief – so ähnlich habe ich auch schon plötzliche Aha-Momente erlebt: unvorhergeshen, sehr verspätet, aber um so erlösender.
Zarah Leanders Stimme empfinde ich anders, bzw. habe ich früher (80er) wegen ihrer Aussergewöhnlichkeit bewundert und meine LP in bestimmten pathetischen Stimmungen gern gehört und laut mitgesungen.
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Meine These ist, dass solche Aha-Momente durch das Leben vorbereitet werden, bis sie sozusagen den vollen Effekt hervorrufen. Jetzt war sie bereit, auf die Erinnerung anders als mit Verdrängung zu reagieren (auch wenn es ihr nicht bewusst war), jetzt konnte sie etwas daraus ziehen …
Ich hatte mal so eine Phase mit Alexandra: Mein Freund, der Baum, ist tot …
Abendgrüße 🌅🍷🍪👍
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Ich musste erstmal googeln, um festzustellen, dass ich das Lied kenne. 😅 Musik hat schon einen eigenartigen Einfluss auf unser Leben. Einige Lieder kann man von Momenten oder Menschen nie mehr entkoppeln.
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Wüsste ich es nicht, würde das wohl endgültig beweisen, dass ich ein Stück älter bin als du 😉
Und ja, so geht es mir auch. Bei mir sind es eher Momente.
Abendgrüße! 🌌🍷🍪👍
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Uh-uh, ich ahne interessante Zeiten… und hoffe für ihren neuen Begleiter, dass er sie überlebt. 😊
Abendgrüße! 🍷😊
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Ihn trifft ja keine Schuld, ich denke, seine Chancen stehen nicht schlecht … 🤔😉
Nachtgrüße 🥱🍷👍
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Eine schöne Verbindung zwischen deiner und Myriades Aktion.
LG, Nati
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Wir machen das öfter. Viele, die bei den Etüden schreiben, schreiben z. B. auch zu einem Bild oder binden die Rahmen ein. Ich finde das gut.
Morgenkaffeegrüße mit Regen 🌧️🌻☕🍪👍
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Manchmal finde ich es bedenklich, vor allem bei Fotoaktionen.
Wenn dann unzählige Aktionen mit einem Bild abgedeckt werden.
Da ist weniger mehr.
Beim Schreiben allerdings muss man schon mehr Mühe aufbringen und nachdenken, damit am Ende ein vernünftiger Text entsteht.
Graue guten Morgen Grüße aus dem Ruhrgebiet.
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Ah, ist das so? Ich treibe mich meist nicht bei Fotoaktionen herum, es ist mir noch nicht aufgefallen. Schönen Samstag dir! 😀👍
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