Sybilla starrte auf das halbamtliche Schriftstück in ihrer Hand und konnte nicht fassen, was sie da las. Ja, sie war die Tochter von Ilse Feldmann, geborene Kaludrigkeit, geboren 1926 in Königsberg in Ostpreußen – und sie hatte was? Eine Schwester, eher wohl eine Halbschwester, knapp nach dem Krieg geboren, also bevor ihre Mutter in den Westen Deutschlands gekarrt worden war und im Wirtschaftswunder Sybillas Vater kennengelernt und mit ihm eine Kleinfamilie gegründet hatte? Nun, ihre Mutter, die wenig über den Krieg gesprochen hatte, hatte zu ihren Erlebnissen in der Besatzungszeit noch hartnäckiger geschwiegen: „Wir haben uns gefühlt, als wären wir verdammt und müssten alles büßen, was der Hitler angerichtet hat. Es ist ein Wunder, dass so viele von uns irgendwie überlebt haben.“
Schaudernd begriff sie, wie grenzenlos allein ihre Mutter gewesen sein musste und wie verzweifelt. Sie war bei der Geburt noch minderjährig gewesen, ob man ihr das Kind weggenommen hatte oder ob sie es nicht hatte haben wollen? Ob sie überhaupt wusste, wer der Vater war, oder ob … Sybilla wollte das nicht weiterdenken.
Aber eines konnte sie machen, jetzt, sofort: Sie blickte auf die Adresse in ihrer Hand – Zweibrücken, wenigstens in Deutschland – und griff mutig zum Telefon. Als eine Frau mit einer älter klingenden Stimme abnahm, holte sie tief Luft: „Olga Petrowa … es könnte sein, dass wir Schwestern sind …“
Visuals: ludwigzeidler.de
Für die abc.etüden, Woche 42.17: 3 Worte, maximal 10 Sätze. Die Worte stammen in dieser Woche von Gerda Kazakou (gerdakazakou.com) und lauten: Zweibrücken, verdammt, grenzenlos.
Bin erst heute Nachmittag länger online, sorry.
Fein! | Solche Schicksale gibt es bis heute. Ich weiß von einer psychisch kranken Frau (Missbrauchstrauma), die seit zehn Jahren quer durch Deutschland zieht, alle paar Jahre in einer anderen Stadt lebt und in jeder (?) Stadt ein Baby zurücklassen muss (Kindeswohlgefährdung). Diese Halbgeschwister werden sich auch irgendwann suchen und, hoffentlich, finden. | Liebe Grüße. Bernd
LikeGefällt 2 Personen
Oh ja, ich glaube auch nicht, dass so etwas ein Einzelfall ist, nicht in deiner Geschichte und nicht in meiner …
Liebe Grüße
Christiane
LikeGefällt 1 Person
Berührend, deine Geschichte. Auf den Dialog zwischen den potenziellen Schwestern wäre ich gespannt!
LikeGefällt 2 Personen
Zu lang für eine Etüde (?), aber sonst … ja, ich habe auch schon dran gedacht.
Liebe Grüße
Christiane
LikeLike
Das ruft nach „mehr“ . Schreib doch bitte eine Fortsetzung.
Lieben Gruß
Anna-Lena
LikeGefällt 3 Personen
Ich überlege schon darauf herum, ob da was geht. Mal schauen mit den neuen Worten.
Liebe Grüße
Christiane
LikeGefällt 1 Person
Ich bin gespannt … Bei mir wartet Ludwig ja auch, wie er aus seinem Dilemma herauskommt 🙂 .
Liebe Grüße zurück zu dir!
LikeGefällt 1 Person
Ich finde die nächsten Wörter auch nicht sooo speziell, da könnte was gehen …
Liebe Grüße
Christiane
LikeGefällt 1 Person
Eindrucksvoll ! Das wäre eine hervorragende Basis für etwas längeres.
LikeGefällt 2 Personen
Aber ja, das ist es auf jeden Fall. Mal schauen, ob es weiter nach mir greift, ich habe auf jeden Fall auch schon dran gedacht.
Liebe Grüße
Christiane
LikeGefällt 2 Personen
Bin auch gespannt
LikeGefällt 2 Personen
Morgen kommen erst mal die neuen Wörter, dann sehe ich weiter … 😉
LikeGefällt 1 Person
Beeindruckt, angerührt, erinnert – danke 🙂
LikeGefällt 1 Person
Oh bitte, gern!
Liebe Grüße
Christiane
LikeLike
Toll, liebe Christiane, wie Du diese Geschichte gezaubert hast.
Schon der Name Kaludrigkeit geht mir nicht mehr aus dem Kopf 🙂
Aber schluderig ging sie wohl nicht mit ihrem Leben um, sondern hilflos war auch sie gefangen in einer Flucht, die äußerst schwierig wurde, mitten durch den eisigen Winter hindurch und wer nicht erfror, hatte Glück, eine sehr gute Kondition oder auch eine Mutter, die sich sorgte, so gut es eben ging …
Und im Westen brauchten sie alle wieder viel Glück, um nach und nach Fuß fassen zu können. Mich wundert es nicht, das das eine oder andere Kind verschwiegen wurde.
Alles hinter sich lassen, hieß die Devise, um zu überleben und neu beginnen zu können.
Das einig Richtige, der Griff zum Hörer, um mit der aufgetauchten Halbschwester Kontakt aufzunehmen!
Eine gute Geschichte
Liebe Grüße zum Wochenende von Bruni
LikeGefällt 2 Personen
Das ist die Geschichte, die wir alle kennen, liebe Bruni, die Geschichte der Flucht. Es gab auch die Geschichte derer, die überrollt wurden und die dann ein paar Jahre später rauskamen (und oft nicht wussten, ob der Zug Richtung Westen fahren würde wie versprochen, oder Richtung Osten, sprich Sibirien). Dies ist die Geschichte einer jener Frauen, wenn überhaupt.
Liebe Grüße
Christiane
LikeGefällt 1 Person
ja, ich weiß es, schreckliche Dinge
und dann die, die man am Wegrand liegenlassen mußte, halbtod und nicht mehr die Kraft hatte, sie weiter mitzuschleppen … und die Fluchtversuche in Booten, Schiffen … *seufz*
Nicht alle gelangen.
Da meine väterliche Linie zu den Vertriebenen aus Schlesien gehört, wurde zuhause viel davon gesprochen …
Lieber Gruß von Bruni
LikeGefällt 1 Person
Das kann auch eine ziemliche Belastung sein, aber gut, dass sie davon erzählt haben!
Liebe Grüße
Christiane
LikeGefällt 1 Person
Und irgendwann nicht mehr…
Und nachdem meine Tante gestorben ist mit mehr als 90 jahren, gibt es keinen mehr aus der Familie, der mir noch erzählen kann
LikeGefällt 1 Person
Ja, so ist das. Irgendwann sind sie alle fort. Der Lauf der Welt.
LikeGefällt 1 Person
ja, aber es war meine Lieblingstante, der ich vieles zu verdanken habe. Vor drei Jahren starb sie, völlig klar im Kopf bis zum letzten Tag … Sie fehlt mir noch heute
LikeGefällt 1 Person
Ach Bruni, das tut mir leid zu hören. Manche Menschen kann man einfach nicht ersetzen.
LikeGefällt 1 Person
Berührend.
Ich bin immer wieder fasziniert (beim Lesen wie beim Schreiben) wie komplexe Geschichten in zehn Sätze passen.
Natalie
LikeGefällt 1 Person
Danke! Diesmal hab ich aber auch gezerrt und geschoben, bis alles drin war, was unbedingt rein musste … 😉
Liebe Grüße
Christiane
LikeLike
Pingback: Aufbruch | abc.etüden | Irgendwas ist immer