Die Herausforderung | abc.etüden

„Wie kannst du nur jetzt schon über das Sterben nachdenken? Du bist doch noch viel zu jung!?“

Ihr versteht nichts, dachte sie. Wie sie das liebte, am Fluss Kaffee zu trinken, den Schiffen nachzusehen und zu lesen. Ein Zeitschriften-Psychotest hatte ihr neulich eine Frage beschert: Was ist zurzeit Ihre größte Herausforderung? Sie hatte lange darüber nachgedacht.
Der Umbruch. Von „voll im Leben“ zu etwas anderem. Sich mit dem Altern anfreunden.

Oh, wie sie alle geschrien hatten, als sie sich mit ihnen darüber unterhalten wollte, was denn jetzt noch käme. Man müsse doch. Man dürfe doch nicht. Ob sie nicht vielleicht depressiv sei und zum Arzt gehen sollte? Am lautesten waren die, deren Hamsterrad am bequemsten gepolstert war und die daher verständlicherweise Angst davor hatten, etwas zu ändern. Konnte man es ihnen verdenken?

Sie war schon weiter. Menopause, klar, aber nicht nur. Es hatte Tode in ihrem Leben gegeben, die sie verändert hatten. Die Stille dahinter faszinierte sie, sogar wenn sie manchmal Angst davor hatte, dass „der Abgrund auch in sie hineinblickte“, wenn sie zu lange hinsah. Wer würde zurückschauen?

Jenes Schweigen war schwer auszuhalten, manchmal. Die Perspektive zu ändern, sich selbst mehr als eines von vielen Lesezeichen im Buch der Zeit zu begreifen, nicht besonders bedeutungsvoll vielleicht, aber dennoch auf ihre Art einzigartig. Was würde von ihr bleiben? Würde man sich an sie erinnern? War ihr das wichtig? Sie wusste es nicht.

Sie jedenfalls war noch weit davon entfernt, altersschwach zu sein, und hatte keine Lust, jetzt schon irgendeinen Löffel abzugeben. Wenige Meter neben ihr mühten sich die Kids damit ab, Steine über das Wasser hüpfen zu lassen. Der Winkel war leider falsch, das sah man auf den ersten Blick. Nun ja. Sie würden es lernen. Oder eben nicht.

Sie blinzelte in die Vorfrühlingssonne und fand das Leben echt schön.

 

Etüden 2019 08+09 | 365tageasatzadayQuelle: Pixabay (hier), Bearbeitung von mir

 

Für die abc.etüden, Wochen 08/09.2019: 3 Begriffe, maximal 300 Wörter. Die Worte stammen dieses Mal von Sabine und ihrem Blog wortgeflumselkritzelkram und lauten: Lesezeichen, altersschwach, hüpfen.

Das mit dem Abgrund ist tatsächlich ein Zitat und zwar von Friedrich Nietzsche: „Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“ (Aph. 146, aus: Jenseits von Gut und Böse, 1886, Online-Quelle)

 

49 Kommentare zu “Die Herausforderung | abc.etüden

  1. Schön geschrieben, mal wieder. Ja, der blickt zurück, wenn ich ihm entgegenblicke. Ich tue das seit dreieinhalb Jahren. Nein, ich bin nicht zu jung dafür. Niemand ist es. Der Tod ist die einzige Konstante unseres Lebens.
    Und der Tumor in meiner Lunge, den ich letzte Woche habe untersuchen lassen, ist bösartig. Seltene Form von Lungenkrebs bei Niemals-Rauchenden. Subjektives Befinden und Prognose gut – und trotzdem …

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  2. Liebe Christiane, so leicht kommen die Worte mit schwierigem Hintergrund bei mir an! Es gibt nur wenige Menschen mit denen ich über den Tod, übers Sterben sprechen kann, leider immer noch. Die Angst, die Unsicherheit ist wohl für die meisten zu groß. Der Tod selbst macht mir keine Angst, der Weg dahin schon, sowie die Verluste, die auf dem Weg ins Alter liegen. Im letzten Jahr starben gleich zwei sehr gute Freunde, ich denke oft an sie, viel öfter als davor und das macht auch etwas mit mir.
    Herzliche Grüße
    Ulli

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    • In mir hat der Tod des Freundes, den ich vor zweieinhalb Jahren auch hier auf dem Blog beweint habe, eine Wunde aufgerissen, die immer noch nicht wirklich verheilt ist, wie ich wieder und wieder feststelle. Ja, es macht etwas mit uns, darf es auch.
      Und ja, Angst vor den Verlusten, die der Weg ins Alter mit sich bringt, welcher Art auch immer, habe ich auch.
      Liebe Grüße
      Christiane

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  3. Ja, liebe Christiane, Tod und Sterben sollte kein Tabu- und kein Angst-Thema sein. Aber im wahren Leben läuft es meist anders. In jungen Jahren, wenn man eine Familie gründet, legt man sich eine Lebens-/Unfall-Versicherung zu. Und damit schließt man dann zunächst für die kommenden Jahre mit dem Thema ab. Man hat ja Vorsorge getroffen. Finanziell wohl, aber auch seelisch/mental? Meist wohl nicht, denn „uns passiert schon nichts“ und „wenn`s kommt, dann kommt es“ oder „wir haben es ohnehin ja nicht in unserer Hand“. Und bei Todesfällen in der näheren Bekannt-/Verwandtschaft heißt es dann „der/die hat sein/ihr Leben ja gelebt“ oder „manche erwischt es halt in jungen Jahren“ und positiv „er hat ja für die Familie vorgesorgt“. Und hier zeigt sich die Abschottung, die esliawelt/Elke sehr schön aufgezeigt hat, zwischen Tod und Sterben, zwischen Kenntnisnahme und Selbst-betroffen-sein, zwischen „zur Beerdigung geht man ja hin“ und „wie kommen die Nächsten damit klar“.

    Im Fernsehen sehen wir viel Elend und Tod, aber die Hilferufe während eines langsamen Hungertodes hören wir nicht, auch nicht die Verzweiflung der Eltern, Geschwister, die die Not und den Schmerz sehen und mit leiden.

    Ja, man sollte schon etwas weiter denken als „der Tod gehört zum Leben“.

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    • Richtig, lieber Werner. Es ist gar nicht nötig, fremde Kulturen zu bemühen, mitleiden tun hier Freunde und Verwandte auch, nur dass hier in der Regel die materiellen Verhältnisse gesicherter sind. Der Tod gehört hier zum Leben eben nicht dazu, und die, die er erwischt (als Hinterbliebene) kommen damit erst mal nicht klar, denn in unserer Gesellschaft hat man nicht zu trauern und wird zum Außenseiter, wenn man sich seine eigene Zeit dafür nimmt. Manches, was ich so mitbekomme, kommt mir völlig absurd vor. Wobei ich da aber auch entspannt zugebe, der angesprochene Außenseiter zu sein, und das inzwischen schon so lange, dass es mir sch…egal ist. Dir einen guten Tag, trotz allem!
      Liebe Grüße
      Christiane

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  4. Mit dem Anführen von Hungertod-Kindern wollte ich eigentlich nur hervorheben, dass wir vielfach zwar Mitleid bekunden aber in Wirklichkeit oftmals kein wirkliches Mitleid empfinden, weil die Nähe und das Erleben fehlt.

    Ich habe aber auch noch eine interessante Entdeckung (zumindest für mich) gemacht: weil Du den Begriff „Lesezeichen im Buch des Lebens“ benutzt hast, habe ich den mal gegoogelt. Heraus kommt dabei, dass die altersschwachen – aber auch jüngeren – Krebs-Betroffenen vielleicht einen Grund haben, zu hüpfen, denn als „Lesezeichen im Buch des Lebens“ wird die neue Forschungsrichtung EPIGENETIK bezeichnet. Ich zitiere aus dem Internet: „Die Epigenetik ist ein hochaktuelles und stark beforschtes Gebiet in den Naturwissenschaften. Für den Pharmazeuten ist sie speziell deshalb von Interesse, da sie neue Ansätze zur Behandlung von Krankheiten wie Krebs liefert. Erste Arzneistoffe, die über epigenetische Mechanismen wirken, kamen in den letzten Jahren neu auf den Markt.“

    https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/daz-az/2017/daz-44-2017/lesezeichen-im-buch-des-lebens

    http://q-more.chemie.de/q-more-artikel/66/lesezeichen.html

    Auch Dir noch einen schönen Tag!
    LG Werner

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    • OH?! Werner, das wusste ich nicht, mir war das mit dem Lesezeichen eigentlich selbst eingefallen … Ich lehne also jetzt schon mal prophylaktisch SÄMTLICHE Verbindungen in diese Richtung ab. Und jetzt gehe ich mal deinen Links nach.
      Hab Dank! 🙂

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  5. Zwei Passagen in deiner Geschichte sprechen besonders stark zu mir: „Die Stille dahinter faszinierte sie, sogar wenn sie manchmal Angst davor hatte, dass „der Abgrund auch in sie hineinblickte“, wenn sie zu lange hinsah.“ und : „Wenige Meter neben ihr mühten sich die Kids damit ab, Steine über das Wasser hüpfen zu lassen. Der Winkel war leider falsch, das sah man auf den ersten Blick. Nun ja. Sie würden es lernen. Oder eben nicht.“
    Zusammen zeigendie beiden Absätze, wo im Alterungsprozess sich die Frau befindet. Einerseits schaut sie schon in den Abgrund, ist fasziniert, aber sie meint, noch eine Kontrolle zu haben darüber, wie nah sie ihm kommt. Andererseits beobachtet sie die Kinder, nimmt aber nur geringen Anteil, denn sie sieht sich nicht mehr als Teil ihrer Welt. diese Frau ist irgendwo „dazwischen“ – schon näher am unvermeidlichen Tod, aber noch nicht wirklich nah. .

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    • Liebe Gerda, vielen Dank für diese Ansicht von außen, das finde ich sehr spannend. Darf ich fragen, woran du das festmachst, dass sie „meint, noch eine Kontrolle zu haben darüber, wie nah sie ihm kommt“?
      Liebe Grüße
      Christiane

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  6. Ich mag deine Geschichte auch sehr, sie ist unaufdringlich und aufrüttelnd zugleich, sie spricht ein Thema an, mit dem wir immer wieder konfrontiert werden und da ist es doch richtig, den Gedanken daran nicht beiseite zu schieben …

    Liebe Grüße
    Anna-Lena

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    • Als Kind geht es meistens. Als Erwachsene sind es meist erst die Großeltern, dann die Eltern. Und dann steht man selbst „in der ersten Reihe“, wie meine Mutter das mal nannte. Dann braucht es Anstrengung, um wegzugucken und nicht hinsehen zu wollen.
      Liebe Grüße
      Christiane

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  7. Das ist ein feinsinnig-tiefer Text, liebe Christiane.
    Mir gefällt besonders Dein poetisches Wortbild „eines von vielen Lesezeichen im Buch der Zeit“.
    In meinem näheren zwischenmenschlichen Bezugsrahmen wird das Thema Altern und Sterblichkeit erfreulich offen und unbefangen besprochen. Ein sehr guter Freund hat beispielsweise ein kleines Aneurysma, das bei einer Untersuchung nebenbei entdeckt wurde, und er muß ja nun mit diesem Wissen leben, also hat er es auch mitgeteilt.
    Liebe Abendgrüße von
    Ulrike

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    • Jede und jeder Einzelne geht anders damit um, das ist von so vielen Faktoren abhängig. Gut hat es, wer beizeiten über Ängste, die unvermeidlichen, zu sprechen gelernt hat …
      Ich mag die Vorstellung, dass das eigene, persönliche „Buch des Lebens“, wenn es sich irgendwann schließt, zu einem Lesezeichen im „Buch der Zeit“ wird. Danke für dein Gefallen!
      Sei ganz herzlich gegrüßt in deinen Abend
      Christiane

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  8. Sie ist gut, Deine Geschichte, liebe Christiane.
    Eine Geschichte, die sich mit dem Tod befasst, den wir alle mit scheelen Augen betrachten, weil er so ungeheuerlich daherkommt, eben wie ein Abgrund, den wir noch nicht sehen wollen… bis wir ihn erleben, in der näheren Umgebung, bei Freunden und anderen uns lieben Menschen. Alle anderen Gespräche sind leichter zu ertragen.
    Ihn aus der Distanz zu sehen, ist sehr anders, als ihn mit ansehen zu müssen. Immer wieder passiert es uns im Laufe unseres Lebens und warum sollten wir nicht darüber reden, warum sollten wir nicht trauern dürfen?
    Nur wenn wir um unsere Menschen trauern können, können wir doch unsere Gefühle verarbeiten und wie sollten wir sonst einigermaßen weiterleben?
    Liebe Abendgrüße von Bruni

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    • Wir müssen trauern, liebe Bruni, wir müssen irgendwie weitermachen. Der Tod macht die hilflos, die zurückbleiben. Jemand ist plötzlich weg. Aber weil keiner gern drüber redet, wird geschwiegen, und alle bleiben damit allein und sind dann, im schlimmsten Fall, auf irgendwelche „Experten“ angewiesen, die einem sagen wollen, was wie abzulaufen und wie lange zu dauern hat. Meistens halte ich nicht viel davon.
      Unsortierte Gedanken am Morgen. Dir einen schönen Tag!
      Liebe Grüße
      Christiane

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      • in der Vergangenheit versuchte ich auch, mich von der Trauer anderer fernzuhalten und war nie glücklich damit.
        Inzwischen ist es mir gelungen, mit denen, die trauern und die ich aus verschiedenen Gründen ganz gut kenne, darüber zu reden und ich stelle fest, wie gut das tut, ihnen und mir auch
        Lieber Morgengruß von Bruni an Dich

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