Ketten im Kopf | abc.etüden

Ich kann nicht, ich kann nicht, ich kann nicht, ich kann nicht. Sarah hat mich zu einem Sederabend eingeladen, mich, ausgerechnet mich, und das hat mich ziemlich abgeschossen, weil ich sie doch mag.

Die ganze Zeit schaue ich zu der kleinen offen stehenden Kiste mit den Erinnerungen von früher. Das große Ding da drin, das da so metallisch glänzt, ist ein altes BDM-Abzeichen, der ganze Stolz meiner Großmutter, von dem Rest haben wir vieles weggeschmissen. „Die haben ihre Religion und wir haben unsere, aber die sind nicht wie wir und wir sind nicht wie die und deshalb mischen wir uns nicht“, mehr hat sie nie gesagt, aber ich weiß, was sie denken würde, wenn ich ihr von der Einladung erzähle, sie hat ihre Haltung nie groß verändert.

Ich wusste jedenfalls nicht, dass Sarah Jüdin ist, sie sieht auch nicht so aus, Sarah ist für mich kein typisch jüdischer Name, „typisch jüdisch“, wie furchtbar sich das schon anhört!

Darf ich wirklich bei Juden an deren Feiertag teilnehmen? Die müssen mich doch immer noch hassen, weil ich das Kind meiner Eltern und Großeltern bin. Ich meine, was Hitler gemacht hat, war ein Verbrechen, ganz klar, aber was ist mit der Schuld bis ins siebte Glied, von der die Bibel spricht, und was ist damit, dass sich meine Leute dann bestimmt von mir verraten fühlen würden, auch wenn sie schon lange tot sind?

Ich mäandere durch meine Gedanken und weiß nicht, was ich ihr sagen soll.

 

2018_14_1_eins lz | 365tageasatzadayVisuals: ludwigzeidler.de

 

Für die abc.etüden, Woche 14.2018: 3 Worte, maximal 10 Sätze. Die Worte stammen in dieser Woche von dergl und lauten: Seder, metallisch, mäandern.

Bisschen viel um die Ohren diese Woche, daher bin ich kaum online. Und irgendwie haben einige von euch in die gleiche Richtung gedacht wie ich, daher musste ich warten, bis ich für meine Etüde wusste, wer spricht und was …

 

 

27 Kommentare zu “Ketten im Kopf | abc.etüden

  1. Das mit der Schuld der nachfolgenden Generationen beschäftigt mich auch immer wieder. Ich finde auch irgendwie keine endgültige Meinung 🤔. Ist und bleibt eine harte Nuss 🌰.

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    • Ich habe zwar eine klare Meinung, was meine Protagonistin tun sollte, aber ich stimme dir zu, dass es da viele Aspekte gibt, über die man diskutieren kann.
      Liebe Grüße
      Christiane

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      • Genau! Du hast eine Geschichte geschrieben, die förmlich nach Kommentaren schreit! dass sie gut geschrieben ist, brauche ich nicht zu erwähnen.
        Was mich an deiner Version beschäftigt, ist die Vorstellung des „Verrats“ an der Oma. Das ist ja noch mal was ganz anderes als die „Schuld“ bis ins 7. Glied. Deine Protagonistin fühlt sich offenbar als Teil einer Solidar- und Schicksalsgemeinschaft (Familie, Volk), zu der es „gehört“ – . Sie hat noch Schwierigkeiten damit, sich als ICH zu sehen, das sich nach eigenem Willen und Dafürhalten entscheidet. Denn sie fürchtet, dann ihre Zugehörigkeit zu gefährden. Verlor ein Mensch die Zugehörigkeit zu seiner Gruppe, war das in Urzeiten ein Todesurteil: er konnte allein nicht überleben. Das wirkt immer noch nach.
        Gerade bei Festen wird der ganze Umkreis von Vorstellungen (ich gehöre dazu, das taten schon meine Vorfahren) aktiviert, der ein Einschließen (und damit auch ein Ausschließen) bedeutet.

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        • Super, liebe Gerda, du erklärst rational, was ich emotional formuliert habe. Sie steckt in dem Zwiespalt zwischen ihrer Herkunft, die sie schätzt und der sie sich verbunden fühlt, und ihrer (notwendigen, möglichen) Entscheidung als Individuum.
          Genau das wollte ich mit in die Diskussion bringen, vielen Dank.

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  2. Diese – nicht nur gedanklichen – Abschottungen ziehen sich leider durch die Zeit. Aber ja nicht nur bei uns, sondern wohl auch bei den Juden, möglichst unter sich zu bleiben. Obwohl ich da eher noch einen Sinn sehen kann, nämlich um – ähnlich wie eine Wagenburg – Schutz zu suchen und zu gewähren gegen Angriffe von außen. Aber der Ursprung liegt wohl eher darin, sich von den Unreinen zu unterscheiden.

    Aber setzen wir das nicht selbst im Christentum fort und ist es nicht immer noch ein Streitpunkt betreffend der Ökumene? Protestanten dürfen immer noch nicht/wieder nicht mehr an der Kommunion in katholischen Kirchen teilnehmen

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    • Juden, die uns als potenzielles Risiko sehen, kann ich gut verstehen, lieber Werner, auch hier in Hamburg werden jüdische Schulen und/oder Altersheime bewacht, und es gibt viele Berichte darüber, dass antisemitische Sprüche in manchen Kreisen sehr en vogue sind.
      So weit ich das weiß, hast du völlig recht, was die Ökumene angeht, ich habe mir angehört, was alles gewuppt und versprochen werden muss, wenn ein Katholik und ein Protestant kirchlich heiraten wollen, und gedacht, ich bin auf jeden Fall nicht im 21. Jahrhundert.
      Liebe Grüße
      Christiane

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  3. Abgrenzung ist immer noch ein Hauptproblem der Menschen, der Kulturen, der Religionen. Die Juden sind/waren gehalten, nur unter sich zu bleiben; die Katholiken erlauben immer noch nicht/nicht wieder Protestanten die Teilnahme an der Kommunion etc. etc.
    Man hat den Eindruck, dass nur ganz ganz langsam aus der Geschichte gelernt wird. Erhaltung von Macht und Einfluss ist wohl wichtiger.

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    • Jupp, das sind die ganzen monotheistischen abrahamitischen Religionen, zumindest in der orthodoxen/fundamentalistischen Ausprägung: Das Recht und damit Gott ist auf meiner Seite, alle anderen sind Sünder, damit verdammt und entsprechend zu behandeln. Simpel, aber effektiv, bekommt jeder in seinen Schädel, auch wenn da sonst nicht viel Platz drin ist. 😦

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  4. Es handelt sich nicht um Schuld in der zweiten, dritten Generation, sondern um ein Trauma – auf beiden Seiten.
    Ich bin eigentlich ein bisschen schockiert anlässlich dieser Etüde hier festzustellen wie wenig viele Menschen über das Judentum wissen und wie verkrampft der Umgang damit ist.

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    • Jupp, und gerade in Deutschland. Vielleicht ist es bei euch anders, ich würde es mir wünschen, aber ich habs geerbt, und zwar volle Kanne. Ja, gruselig.
      Ach, und übrigens: Deshalb die Überschrift.

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      • „Wir“ haben das Problem wunderbar gelöst: Österreich gehört nicht zu den Tätern sondern zu den Opfern. Da schaust du, was? Wir wurden von den bösen Deutschen annektiert und sind in jeder Hinsicht völlig unschuldig, kollektiv. Die Tatsache, dass lange vor dem Anschluss viele Österreicher NSDAP_Mitglieder waren, dass bei der SS ein unverhältnismäßig hoher Prozentsatz von Österreichern war etc etc wurde jahrzehntelang offiziell verdrängt …..

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  5. Ich hätte hinten vielleicht das h weglassen sollen. Aber Sara(h) erfreut sich angeblich seit den 80ern größter Beliebtheit als Mädchenvorname, also kann ich mir vorstellen, dass eine, die noch nicht so alt ist, mit ganz vielen Sara(h)s aufgewachsen ist, deren Mütter den Namen halt schick fanden und damit nichts Jüdisches verbanden.
    Und mal ganz ehrlich: Israel und Sara, um das zu wissen, da muss man in Geschichte aber gut aufgepasst haben.

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    • Ja, klar, das mit dem Wann sollte vielleicht sogar eher das Ding sein, bei dem Wo hoffe ich auf relativ einheitliche Lehrpläne.
      Ich denke, dass die, die mehr Medien zur Verfügung hatten als Bücher, auf jeden Fall im Vorteil sind/waren.
      (Mir fällt spontan aus meiner Schulzeit keine*r mit einem jüdischen Vornamen ein … nee, spontan nicht.)

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      • Michaels hatten wir, aber wie du sagst, ich fand den Namen nie jüdisch, obwohl ich es heute besser weiß.
        Aber Anne Frank war in unseren Schulbüchern, und mit Sicherheit auch in der Schulbücherei. Wann ich es gelesen habe, ob noch zu Schulzeiten oder erst später, weiß ich nicht mehr, aber es war mir „immer“ ein Begriff.

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    • Zu deiner Information, liebe dergl: Anne Frank war zu meiner Schulzeit (Abi 61) in Schleswig-Holstein noch kein Schulstoff. Kam nicht vor. Punkt aus. Und Sarah – das kannte man ausschließlich aus der Bibel als Namen der Frau von Abraham, die in hohem Alter noch ein Kind bekam: Isaak. Die Verwendung des Namens in Nazi-Zeiten erfuhr ich sehr viel später.

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  6. Mit dem Namen Sarah liebäugelte ich auch, als ich schwanger war. Und der Sohn, den ich dann gebar, trägt auch einen alttestametarischen also jüdischen Namen.
    Wie verkrampft das Verhätnis zum jüdischen Leben noch immer ist, fält mir beim Lesen dieser Etüden auf.. Den meisten, mich eingeschlossen, kommen beim Namen eines jüdischen Feiertags Assoziationen zur Shoah und dem genau deswegen verkrampften Verhältnisses.
    Und zu deiner bemerkenswerten Geschichte, Christiane, ich wünsche deiner Protagonistin, dass sie Sarahs ausgestreckte Hand ergreift.
    Natalie

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    • Deine Protagonistin ist in deiner Etüde den Schritt gegangen, der meiner (noch) fehlt. Ohne deine Etüde hätte ich sie vielleicht gehen lassen, so blieb sie stehen/stecken, und ich fand es dann auch sinnvoll.
      Ja, ich wünsche es ihr auch, dass sie es sehen kann, wie es inzwischen ist, ohne dass die Schatten der Vergangenheit übermächtig bleiben. Danke.
      Liebe Grüße
      Christiane

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  7. Pingback: Kleinigkeiten – Fädenrisse

  8. Eine richtig, richtig gute Geschichte, liebe Christiane.
    typisch jüdisch wäre mir nie in den Sinn gekommen. Es gibt so viele Namen um uns, viele, die uns sehr vertraut sind, und sind doch aus anderen Kulturkreisen. Heute werden sie meist wegen ihres Wohlklanges (denke ich wenigstens) ausgesucht.
    Zur Zeit gibt es hier in den Grundschulen viele Jungens, die Elias heißen, aber denken die Mütter wirklich daran, daß sie ständig einen kleinen Propheten mit Namen rufen? Meist sind sie abgekürzt in Lias und es ruft sich sehr schön.
    Na gut, es ist nicht der Kern Deiner Geschichte und der ist so stimmig, zeigt uns wirklich drastisch die Ketten im Kopf, was sich nicht befreien kann aus der Geschichte, was uns hemmt, unsere Gedanken frei zu machen.
    Anne Frank las ich früh, wieso weiß ich nicht, es interessierte mich eben, ich wollte wissen, und es hatte nichts mit dem Schulunterricht zu tun. Der begann in den 50er Jahren und ich erinnere mich an keinen Stoff aus dem 3. Reich. Vielleicht habe ich da auch schon abgeschaltet, weil ich nichts mehr davon ertrug. Ich kannte das unangenehme Schweigen der einen Seite und die Geschichte der anderen, die ich aufsaugte wie einen Schwamm. Die Geschichte des Onkels, der als Bahnbeamter beobachtete, wie Züge rüde mit Menschen vollgestopft wurden, wie sie behandelt wurden und er kam weinend nachhause und erzählte es seiner Frau, der Schwester meiner Oma. So kam die Wahrheit zu mir.
    Das Eiserne Kreuz, das man meiner Oma für ihren in Rußland vermißten Sohn schickte, schmiss ich nach dem Tode aller in den Müll, nur da gehörte diese Verhöhnung hin.

    Meine Gedanken weinen, wenn ich an all das denke.
    Danke, liebe Christiane, für diese gute Geschichte, in der alles so wundervoll leise verpackt war
    und liebe Grüße von Bruni

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    • Ich glaube, liebe Bruni, wenn das Thema in der Familie vorkam, dann interessiert man sich eher, als wenn auf alldem der Deckel so draufgehalten wurde, dass man es erst entdecken muss – oder wenn man selbst (und die Eltern) schlicht zu jung sind. Ich bin ein bisschen „zwischen den Generationen“ geboren, meine Eltern haben den Krieg noch erlebt, daher habe ich gefragt und eigentlich sehr oberflächliche Antworten bekommen, aber ich habe gefragt, und Geschichten gab es dann doch.
      Und nein, ich glaube nicht, dass die Leute über den Inhalt/Gehalt von Namen nachdenken, sonst gäbe es keine Leute, die mit „Fun“-Namen experimentieren: Erinnerst du dich noch an das Aufsehen um Pumuckl?
      Ich freue mich, dass dir meine Geschichte gefällt!
      Liebe Grüße
      Christiane, wieder zu Hause

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