Figuren erfinden und ihnen Raum geben | Schreiben bei Jutta Reichelt, Tag 6/7

 

Wenn ich etwas von Jutta gelernt und auch immer wieder zitiert habe, dann ihr Credo: „Bringt eure Protagonisten in Schwierigkeiten!“ Denn ja, ohne Schwierigkeiten sind die meisten Geschichten so fade wie eine Suppe, der Salz fehlt. Also beginnt bei mir eigentlich jede Etüde und jede Geschichte damit, dass der*die Protagonist*in in einer Klemme steckt und zumindest versucht, irgendwie das Beste daraus zu machen bzw. weitere Schwierigkeiten zu vermeiden. Bücher, die ich mag, servieren oft ein kleineres Problem zum Einstieg (der klassische Tote am Anfang eines Krimis), und wenn man sich dann darauf einlässt, steigt man in ein ganz anderes Problem in einer anderen Größenordnung ein (der Tote musste sterben, weil er die Weltverschwörung aufgedeckt hat, und nun wird entweder der Protagonist von den Verschwörern als Mitwisser verfolgt oder er übernimmt die Rolle des Rächers und will seinerseits die Weltverschwörung zerschlagen). Klingt nach Schema F, muss es aber nicht sein.

Von allen Figuren, die ich im Laufe der Etüden erfunden habe, ist mir mein Wassermaler am meisten ans Herz gewachsen. Eigentlich war er das Produkt eines Etüdensommerpausenintermezzos, in dem es galt, 10 vorgegebene Wörter in einem Text beliebiger Länge unterzubringen, in dem Regen irgendeine Rolle spielen sollte. Ich liebe so was. Bei derartigen Schreibaufgaben geht es mir meistens so, dass sich ein Begriff herauskristallisiert, an dem ich die Geschichte aufhänge. Hier war es der Wassermaler, dessen Bild sich mir optisch aufdrängte und den ich wörtlich genommen habe: Ein älterer, hagerer Mann mit Nickelbrille, Rotweinaugen und maximal Dreitagebart, im Leben irgendwie gescheitert, der den Sommer malend auf einer Seepromenade an der Ostsee verbringt und seine Bilder dort auch an die Touristen verkauft. Da ich unter anderem auch noch Schwimmflügel und Sommersprossen unterzubringen hatte, war mir klar, dass in diese Geschichte auch noch ein Mädchen gehören würde.

Okay, was sollte es werden? Eine Lovestory mit der Mutter des Mädchens? Gähn. Zu vorhersehbar. Oder, besser, könnte das Mädchen vielleicht irgendwie in Gefahr geraten und er sie retten, und damit dann der Mutter näherkommen … Hmmm. Bringt eure Protagonisten in Schwierigkeiten, verdammt! Was ist mit dem Typ los, dass er keine Frau hat? Und dann war sie plötzlich da, die Büchse der Pandora, verlockend und zum Greifen nah: Seine eigene Tochter ist als Kind gestorben, die Ehe daran gescheitert, er hat es nie wirklich verarbeitet und ist nie darüber hinweggekommen.

Ja, herrliche Schwierigkeiten! Und so strickte ich dann meine leichte Sommergeschichte zurecht, nachdem ich mich intensiv und voller Freude dazu belesen hatte, wie das mit dem Rettungsdienst an der Ostsee so läuft, wenn jemand in Seenot gerät, und wie das Kind des Wassermalers hatte verunglücken können. Happy End mit Mama? Eher nicht, dazu war er zu beladen, mein Wassermaler. Schade.

Womit ich nicht gerechnet hatte, war, dass er ein ausgeprägtes Eigenleben entwickelte. Offenbar habe ich mit dem Wassermaler eine Figur entwickelt, die so eng an meinen eigenen Befindlichkeiten oder sogar Nöten entlangsegelt, dass er unglaubliche knappe anderthalb Jahre später in eine depressive Vorweihnachtsetüde schlüpfte – und dort prompt seiner geschiedenen Frau wiederbegegnete. Aber das reichte nicht. Die Geschichte gärte weiter und mein Wassermaler wurde willens, sich seiner Vergangenheit zu stellen und ins Leben zurückzukehren – er begegnete seiner Ex-Frau ein zweites Mal und entwickelte zögerliche Frühlingsgefühle. Neben erneuten Recherchen zu Zeit und Umständen war dies der Punkt, wo ich ohne psychologisches Feedback aus der Etüdenrunde aufgeschmissen gewesen wäre: Ticken Leute so, ist das glaubwürdig, kann da was gehen, wenn man ein totes Kind im geistig-seelischen Gepäck hat? Ich habe euch in den Kommentaren danach gefragt und bin speziell Gerda, Werner und Bernd für ihre Antworten immer noch dankbar, ich bin anfangs viel zu blauäugig gewesen.

Es brauchte wieder ein paar Monate, bis ich so weit war, den Wassermaler weiterschreiben zu wollen. Ich wusste, das wird länger, und war happy, als mir der Aufruf zu einer Halloween-Anthologie unterkam, in der ich meine Geschichte unterbrachte. Wie mehrere von euch bereits angemerkt haben, ist das keine Halloween-Geschichte, sondern der Teil der Wassermaler-Serie, der zufällig an Halloween spielt. Ich bin sehr zufrieden damit, ich habe das Gefühl, meinem Wassermaler und seiner Ex-Frau gerecht geworden zu sein, und es kann sein, dass er jetzt schlummert … zumindest im Moment tut er es. Aber es war so eine Freude, daran zu schreiben!

Eine unerwartete Freude waren die Recherchen. Plötzlich brauchte mein Wassermaler eine Vergangenheit und einen Broterwerb im Winter, also brachte ich ihn in einem (selbstverständlich existierenden) Museum unter. Da ich über Orte geschrieben habe, die ich nur teilweise kannte, habe ich lange über Karten gebrütet, mir Fotos, Straßen-, Fahr- und Speisepläne angesehen, einen Ort am Bodensee ausgemacht mit einer Bäckerei, die dann offen hatte, als ich es brauchte, und einem Friedhof in Laufnähe … ich könnte sogar mit einer Wohnadresse dienen. Wenn ich jemals etwas Größeres schreibe, werden meine Recherchen unglaublich viel Zeit in Anspruch nehmen und ich werde hinterher echt viel wissen, so viel steht schon mal fest. Ebenso halte ich es für absolut wahrscheinlich, dass ich zu den Plottern gehören würde. Der Wassermaler hat sich noch ohne großen Plan schreiben lassen, aber wenn ich etwas Komplexeres schreiben werde und würde, sehe ich mich vorher viele, viele Vorarbeiten leisten (und notieren), bis ich „nur noch“ schreiben darf*muss. Wenn ich also über Juttas Frage – „Was hat Euch in der vergangenen Woche (oder überhaupt in der Vergangenheit) schreibend am meisten Spaß gemacht?“ – nachdenke, dann muss ich sagen: das. Glaubwürdige Figuren in einem glaubwürdigen Umfeld glaubwürdig agieren zu lassen. Und dann eine Tür für das Magische zu öffnen – nur nicht beim Wassermaler, der kommt ohne aus, das tu ich ihm nicht an.

„Weiterschreiben ist oft leichter als anfangen“, schreibt Jutta. Das geht mir anders. Mich langweilen meine Figuren meist, wenn ich ihre Geschichte auserzählt habe, und sei es bloß eine Etüde, oder ich habe keine Idee für neue Schwierigkeiten, in die ich sie stürzen könnte. Oder aber das Weiterschreiben ist mit einer derartigen Menge an Aufwand verbunden, dass ich es mir echt zweimal überlege.
Denke ich darüber nach, wessen Geschichten noch offen sind, dann bleibe ich bei meiner Vampir-WG hängen (Jutta, ich sage nur: John, sehr blass), obwohl ich Vampire eigentlich nicht ausstehen kann und nicht noch eine Variante Vampirkitsch erfinden möchte, auch keinen Vampir-Porn oder so; und bei Lumi, in deren Geschichte man allerdings jede Menge aktuelle Bezüge unterbringen könnte, von Klimawandel bis … Andererseits ist Lumi, äh, nicht ganz menschlich, und damit fällt sie per Definition unter Fantasy. Kennt wer von euch Fantasy mit Umweltthriller-Einschlag? Gibt’s das überhaupt?

Wenn ich mir das so durchlese, dann ist das ein geschwätziger Bericht über meine Begeisterung für meine Wassermaler-Storys, garniert mit Gedanken dazu, was ich beim Schreiben über mich gelernt habe. Ich wollte das schon lange mal festhalten.
Also bleibt mir jetzt nur noch, euch darauf hinzuweisen, dass ihr die Wassermaler-Storys rechts in meiner Seitenleiste findet (unter der Liste mit den neuesten Kommentaren), bis auf den letzten Teil, der ist nicht online. Wenn ihr den lesen wollt, sagt bitte Bescheid, ich freue mich über euer Interesse.

 

Schreiben bei Jutta Reichelt Tag 6/7 | 365tageasatzadayQuelle: Pixabay, Bearbeitung von mir

 

Frühlingsgefühle | abc.etüden

Der Frühling kam, wie er immer kam: mit Macht, mit Möwengekreisch, mit frischem Wind und Bäumen, die sich wie über Nacht in ein weiches Grün kleideten. Und mit ihm kamen die Osterferien und die Touristen. Ersteres war Max Hansen ziemlich schnuppe, letztere nicht, schließlich kauften sie seine Bilder. Von irgendwas musste man ja abbeißen.

Als er am Morgen aus dem Fenster sah, seufzte er. Nieselregen mit der Option auf mehr, nach den Wolken zu schließen. Ausgerechnet heute, wo er zum ersten Mal Susanne wieder treffen würde! Flanieren auf der Strandpromenade konnte er damit wohl knicken, sie zu sich einzuladen hatte er sich nicht getraut. Das könnte missverstanden werden, und dann wäre der ganze Tag verdorben.

Als sie in seinem Lieblingscafé einfielen, weil es draußen wie erwartet vor sich hin pladderte, fremdelten beide zuerst. Sie widmete sich genüsslich ihrem Schokoladenkuchen und leckte sich hin und wieder die Finger ab. Er sah ihr gebannt dabei zu.
Wie viel Sinnlichkeit sie ausstrahlte! Wie lange hatte er nicht mehr so an sie gedacht?
Sie bemerkte seine Blicke und lächelte heiter. Das brach das Eis. Sein nervöser Magen beruhigte sich.

„Ach, Sanne, ich war so ein Esel damals“, platzte es aus ihm heraus, während sie entspannt über Gott und die Welt plauderten. „Was würde ich darum geben, wenn ich wiedergutmachen könnte, was passiert ist.“
„Kannst du nicht“, antwortete sie. „Was vorbei ist, ist vorbei. Ich bin auch nicht stolz auf mich. Wir haben unsere Ehe damals gründlich an die Wand gefahren.“
„Es tut mir so leid. Glaubst du mir wenigstens das, trotz all meiner Fehler?“
Sie lehnte sich zurück und musterte ihn aufmerksam.
„Weißt du eigentlich, Max Hansen, dass du immer mein Traummann warst? Seit wir uns kennengelernt haben, was übrigens morgen vor fünfundzwanzig Jahren war?“
Ihre Augen strahlten. Sein Herz machte einen kleinen unverhofften Sprung.
„Du hast mir auch gefehlt. Ehrlich gesagt habe ich jede Frau mit dir verglichen. Und mich irgendwann damit abgefunden, dass du weg warst, dass Marie tot und mein Leben kaputt war.“
„Und seitdem sitzt du rum und hast keine Freude mehr.“ Das war eine Feststellung, keine Frage.
„Außer beim Malen.“
Sie nickte. „Zum Glück für dich. Kannst du dir überhaupt noch vorstellen, aus deinem Schneckenhaus auch wieder rauszuwollen?“
Er wusste nicht, ob er den Satz so verstehen durfte, wie er möglicherweise gemeint war, entschied sich jedoch für die Wahrheit. „Ich weiß nicht, ob das noch geht“, gab er zu. „Ich wollte seitdem nie, weißt du? Also nie so wirklich.“
„Aber damit fängt es an. Mit der Sehnsucht. Der Angst davor, dass man sich irrt und am Ende wieder bloß Scherben stehen. Und irgendwann der Entscheidung, das Risiko einzugehen.“

Er zögerte zu lange. Sie erhob sich abrupt.
„Max, ich will heute noch in die Therme. Sehen wir uns morgen wieder? Gleiche Zeit, gleicher Ort?“
Er nickte verdattert und dann rauschte sie auch schon davon. Obwohl er ihr hinterherstarrte, drehte sie sich nicht um.
Es dauerte, bis Max auffiel, dass er bis über beide Ohren grinste.
Frühlingsgefühle. Eindeutig.

 

Extraetüden 14.19 | 365tageasatzadayQuelle: Pixabay, Bearbeitung von mir

 

Für die abc.etüden, Ausgabe Extraetüden, Woche 14.2019: 5 Begriffe (aus 6), maximal 500 Wörter. Ich habe alle Wörter verwendet, weil es mir gerade passte: Nieselregen, weich, irren, Café, verdorben, beißen.

Mir ist gerade so. Und ja, das ist mein Wassermaler, der seine Ex-Frau über Weihnachten doch nicht wieder getroffen hatte, ich weiß allerdings nicht, wieso. Immerhin haben sie ein paarmal telefoniert. Wer die vorhergehenden Teile noch nicht kennt: hier, hier und hier.

 

 

Wenn nur die Sehnsucht nicht wäre | abc.etüden

Wer annahm, dass Weihnachten das Fest der Liebe war, glaubte vermutlich auch, dass Einhörner Regenbogen pupsten. Er jedenfalls hatte zu viele Weihnachtsfeste nur mit der Rotweinflasche verbracht. Hatte nachts im Fernsehen Frauen angestarrt, die mit transparenten Dessous und später nur noch mit neckischem Nikolausmützchen bekleidet waren, bis ihm die Augen zufielen.

Wenn nur die Sehnsucht nicht wäre.

Natürlich war ihm bewusst, dass der Weihnachtsrummel vor allem deshalb veranstaltet wurde, um die Umsätze nach oben zu treiben. Wen kümmerten da die paar Millionen Menschen, die sich wünschten, dass Weihnachten so schnell wie möglich vorbei ginge – oder besser, gar nicht erst stattfände. Aus Gründen.

Wenn nur die Sehnsucht nicht wäre.

Er hatte sie gekannt, die fröhlichen Weihnachten, hatte gefühlte Unsummen für Frau und Kind ausgegeben, und das gern. Hatte klaglos die ganzen unsäglichen Besuchsarien bei Omas, Opas, Eltern, Tanten und Onkeln und Cousins mitgemacht, hatte sich in den Weihnachtsgottesdienst schleifen lassen, weil man das so tat, und nicht einmal darüber gemeckert, dass es jedes verdammte Jahr immer wieder nur Gans gab. Es hatte sich richtig angefühlt.

Wenn nur die Sehnsucht nicht wäre.

Auf der Seepromenade lauschte er gerade den hervorragenden lettischen Blechbläsern in Nikolausmänteln, als jemand ihm auf die Schulter tippte. Er sah in ein fragendes Gesicht.
„Entschuldigung – Max? Max! Gut siehst du aus!“
„Sanne? Mein Gott. Was machst du denn hier?“
„Urlaub. Bis Dreikönig. Lebst du noch hier?“
Er nickte.
„Wollen wir uns mal treffen? Irgendwo? Nur reden?“
„Gib mir mal deine Nummer.“
„Ist die alte. Hast du die noch?“
Er nickte. „Ich melde mich.“

Wenn nur die Sehnsucht nicht wäre.

Zwei Stunden später spielten die Letten: „Still, still, still, weil’s Kindlein schlafen will.“ Das war zu viel. Etwas zerbrach. Der Kummer hatte sein Herz die ganzen Jahre bluten lassen, er konnte genauso gut etwas wagen. Entschlossen griff er zum Handy.

 

2018 51+52 | 365tageasatzadayQuelle: Pixabay, Bearbeitung von mir

 

Für die abc.etüden, Woche 51/52.2018: 3 Begriffe, maximal 300 Wörter. Die Worte stammen dieses Mal von dergl und lauten: Regenbogen, transparent, bluten.

 

Falls sich wer fragt, wer da spricht, es ist mein „Wassermaler“ (hier und hier lesen), er lebt an der Ostsee, Sanne ist seine geschiedene Frau, sie hatten eine Tochter, die tragisch gestorben ist … (Update: Hier geht die Geschichte weiter.)
Oh, und besagte Letten (aus Riga, hab leider kein Foto) stehen zurzeit auf dem Hamburger Weihnachtsmarkt am Rathaus. Ein Genuss.

 

 

Sollten wir uns nicht mehr lesen, wünsche ich euch besinnliche und frohe Feiertage! Dieser Blog macht keine Weihnachtsferien, befindet sich jedoch ab Heiligabend (und den Montagsgedichten) häufiger im Außer-Haus-Modus.

 

Der Wassermaler, Teil II | Etüdensommerpausenintermezzo

Willkommen bei der zweiten Hälfte meines Etüdensommerpausenintermezzos! Es ist die etwas längere Hälfte *hust* – man sollte mir keine Zeit geben, etwas zu überarbeiten, dann findet sich Halbsatz nach Halbsatz ein … Immerhin habe ich nichts mehr wirklich umgeschrieben!  🙂

(Es geht in diesem Intermezzo darum, folgende Wörter in einen Text beliebiger Länge, in dem REGEN irgendwie eine Rolle spielen muss, einzubauen: Badelatschen, Hitzefrei, Höhenfeuer, Liegestuhl, Qualle, Qualm, Schwimmflügel, Sommersprossen, Ventilator, Wassermaler.)

Falls ihr den ersten Teil nicht gelesen habt, solltet/könnt ihr das hier nachholen. So endet der erste Teil:

… Er beschattete mit der Hand die Augen und konzentrierte sich. Da war doch im Tiefen, ein Stück jenseits der Absperrung, eine Badekappe mit einem rosa Schwimmring, oder täuschte er sich? Ihm war gar nicht bewusst, dass er sich in Bewegung gesetzt hatte, als er schon zu der Station der Rettungsschwimmer rannte. Mick und sein Kumpel sahen durch ihre Ferngläser in die Richtung, in die er nach Luft ringend deutete, einer rief „Oh, Scheiße“ und griff nach seinem Funkgerät. Wenige Sekunden später sahen sie einen der Wachgänger ins Wasser rennen und zügig loskraulen.

 

Das Schlimmste war dieses quälende Gefühl des Vorherwissens, was weiter geschehen würde. Die Erinnerung überflutete ihn wieder, er wollte lieber nicht hinsehen, konnte sich aber nicht zurückhalten und wappnete sich irgendwie für das Schlimmste, während er den Weg des Rettungsschwimmers verfolgte. Zu seinem Glück bemerkte er aber noch rechtzeitig, dass an seinem Stand ein Ehepaar darauf wartete, dass er auftauchte, also überließ er das Geschehen halb widerwillig, halb erleichtert dann doch den Profis und ging hin – er konnte es sich nicht leisten, potenzielle Kunden zu ignorieren. Und wirklich, heute war ein guter Tag, sie nahmen zwei Bilder zu einem sehr akzeptablen Preis.
Nachdem sie abgezogen waren und er sich sofort wieder den Hals nach dem Geschehen am Strand verrenkte, sah er lediglich den DLRG-Jüngling mit einem Kind auf dem Arm und dem rosa Schwimmring in der Hand langsam über den Strand wandern und sich seinen Weg zwischen Schirmen und Handtüchern hindurch bahnen. Gott sei Dank. Er atmete tief durch und fühlte sich plötzlich schlapp wie ein angepikter Luftballon und ein bisschen albern. Nichts war passiert, anscheinend, sonst wäre da jetzt die Hölle los.
Alles nur Kino in seinem Kopf.
Schlechtes.
Und ob das Kind die Nicht-Marie war, brauchte ihn jetzt auch nicht mehr zu kümmern. Noch mehr Kids hatten rosa Schwimmringe.
Er beschloss zusammenzupacken und heimzugehen, es sah inzwischen verdammt nach Regen aus, und zwar bald. Genug Aufregung für heute. Schade nur um das Feuerwerk.

 

Sonntag

„Die Rettungsschwimmer haben gesagt, ich solle mich bei dem Wassermaler bedanken, wenn überhaupt, sie hätten nur ihre Pflicht getan und würden nichts dafür annehmen. Das waren doch Sie? Gestern?“
Er sah überrascht von seinem Buch hoch und schob die Lesebrille über den Haarkranz. Kein Wetter zum Malen heute; nach dem Regen, der fast die ganze Nacht über heruntergerauscht war, war es unbeständig und schwül-warm. Aber ihn hielt nichts im Haus, schlechtes Wetter schon mal gar nicht, also hatte er beschlossen, wie jeden Tag zur Seepromenade zu kommen und an der frischen Luft einen Espresso zu trinken. Für alle Fälle lag seine Skizzenkladde neben ihm.

Natürlich erkannte er sie sofort. Die Mutter des Mädchens, das bestimmt nicht Marie hieß. Sie war es also doch gewesen! Heute trug sie einen knallroten Rock und darüber ein schwarzes, ärmelloses Top, das verkündete, sie stünde mit beiden Beinen fest im Glitzer. Na dann.
„War ich“, sagte er, stand auf und streckte ihr die Hand hin, „darf ich mich vorstellen, mein Name ist Max Hansen. Sagen Sie Max.“ Sie ergriff sie.
„Helene Matthies, und sagen Sie bloß nicht Helene, so nennt mich nur meine Oma. Ich bin Lena.“
„Setzen Sie sich, Lena, und trinken Sie einen Kaffee mit mir.“
Ein schneller Blick auf die Uhr.
„Ja, gern.“
„Wie geht es Ihrer Tochter, hat sie den Schreck überstanden? Wie konnte sie überhaupt ins offene Wasser geraten?“
Lena seufzte.
„Lilli behauptet, und ich sage nicht, dass ich ihr das so glaube, dass sie gar nicht bemerkt hätte, dass sie schon jenseits der Absperrung war. Außerdem wären auch noch andere Kinder dabei gewesen, zumindest am Anfang. Und sowieso hätte sie alles voll unter Kontrolle gehabt und sie verstünde gar nicht, warum ich mich jetzt so aufregen würde. Ehrlich gesagt halte ich das mit der Absperrung für einen Fall von ‚Das Gras ist auf der anderen Seite vom Zaun grüner.‘.“
Er lachte los, er konnte sich nicht zurückhalten.
„Sie lachen“, sagte sie und grinste dabei auch ein bisschen schief, „okay, der Rettungsschwimmer, der sie gestern zurückgebracht hat, hat ihr einiges über ‚ablandigen Wind‘, ‚Sog‘, ‚gefährlich‘ und ’sich nicht überschätzen‘ erzählt. Sie findet ihn total toll und will jetzt auch Rettungsschwimmerin werden. Immerhin will sie ihn nicht gleich heiraten. Ich frage mich, was das erst gibt, wenn sie in die Pubertät kommt.“ Sie verdrehte gespielt genervt die Augen.
„Aber Sie hätten das Gezeter gestern Abend hören sollen, weil das Höhenfeuer ausfiel! Wo sie mir schließlich abgetrotzt hatte, dass sie so lange aufbleiben durfte, wegen Ferien und so! Als ob ich gemacht hätte, dass es zur Strafe regnet und das Feuerwerk nicht stattfindet! Und heute Morgen hat sie die ganze Zeit gequengelt, dass ich ihr doch jetzt nicht etwa verbieten würde, zum Schwimmkurs zu gehen, wo sie doch jetzt schon richtig gut wäre. Hatte ich nie vor, muss ich sagen, ich bin ja heilfroh, dass sie so easy schwimmen lernt und Spaß hat. Und überhaupt, meint sie, das gestern sei doch nur ein kleines Missgeschick gewesen. Manchmal frage ich mich, woher sie mit sieben so viele Wörter kennt. Von mir hat sie das nicht.“

„Finde ich gut, dass sie sofort wieder ins Wasser will, das ist wichtig“, sagte er. „Marie, also meine Tochter, war auch so. Nicht aus dem Wasser zu kriegen, nachdem sie erst mal damit vertraut geworden war.“
„War?“, fragte Lena behutsam. Eine Pause entstand, in der er kurz überlegte, ob es fair war, sie mit seinem Kummer zu belasten. Ach, warum nicht.
„Ein Segelunfall“, platzte er heftiger als beabsichtigt damit heraus, „als sie acht Jahre alt war. Der Jüngsten-Segelschein. Auch so ein Kurs, bei dem nie was passiert, wie diese Seepferdchenkurse. Eine plötzliche Windböe, drei Optimistenjollen rasseln zusammen und kentern, ein Kind gerät unglücklich unter Wasser und kann nicht rechtzeitig wiederbelebt werden …
Es ist jetzt gut zehn Jahre her, aber es verfolgt mich manchmal noch immer in den Schlaf. Und Ihre Lilli sieht ihr ähnlich, das muss ich zu meiner Verteidigung sagen.“
„Oh Gott, wie furchtbar!“, stieß sie hervor. „Das muss schrecklich gewesen sein! Entschuldigen Sie bitte, dass ich gefragt habe, ich wollte gewiss keine bösen Erinnerungen aufrühren. Ich wüsste nicht, was ich täte, wenn Lilli etwas passieren würde. Seit Lillis Vater uns verlassen hat, habe ich nur noch sie.“
Er nickte.
„Ging uns damals auch so. Meine Frau und ich, wir sind beide auf unsere Art damit nicht fertiggeworden. Ich dachte, ich müsste ihr den starken Mann vorspielen und war dabei vielleicht mindestens ebenso bedürftig wie sie, nur halt anders. Habe ihr ständig erzählt, dass sie nach vorn blicken müsste. Und als sie es dann endlich konnte, bin ich eingeknickt und habe sie hängen lassen, weil ich nicht dazu fähig war. Eineinhalb Jahre nach dem Unfall haben wir uns getrennt. Es ging nicht mehr. Ich bin hierher zurückgekommen, weil ich nicht weit weg geboren bin und es dort bei ihr nicht mehr ausgehalten habe.“
Er atmete tief durch und zwang den letzten Schluck kalten Espresso hinunter.
„Hört sich schlimm an, ich weiß, war auch schlimm. Inzwischen geht es mir wieder einigermaßen. Die Zwischenstadien erspare ich Ihnen. Aber so ist dann ganz langsam ein etwas kauziger Wassermaler aus mir geworden.“

Sie schwiegen beide. Er las in ihren Augen, dass er ihr irgendwie leidtat. Na ja, das war normal. War es auch normal, dass er sich irgendwie befreit fühlte, wie von einer Last? Er sprach selten über Marie, und schon gar nicht mit Fremden.
Auf jeden Fall war es ein gutes Gefühl.
„Es ist mir schrecklich peinlich, ausgerechnet jetzt aufbrechen zu müssen“, sagte Lena, „aber in zehn Minuten ist Lillis Seepferdchenkurs aus, und danach bin ich mit ihr bei der Rettungsschwimmer-Station verabredet, weil sie sich bedanken und natürlich schauen will, ob ihr Held von gestern heute auch da ist. Wollen Sie mitkommen? Lilli freut sich. Sie hat gestern nämlich bestimmt dreimal gefragt, ob das auch ganz sicher Sie gewesen wären.“

Früher hätte er abgelehnt, hätte die Situation irgendwie komisch oder doof gefunden und keinem zur Last fallen wollen. Aber auch ein alter Esel konnte lernen.
So nickte und lächelte er und erwiderte schon im Aufstehen: „Wissen Sie was? Die Rettungsschwimmer arbeiten alle ehrenamtlich für ’n Appel und ’n Ei, aber ich kann Ihnen verraten, dass das Café, vor dem wir gerade sitzen, verdammt guten Kuchen hat. Wenn Sie also eine Runde ausgeben wollen, hier böte sich eine gute Gelegenheit. Ich helfe Ihnen gerne tragen.“

ENDE

 

Na, alle noch da? Oder hab ich euch breit gequasselt? Geschieht euch recht!  😀

 

intermezzo 3 | 365tageasatzadayVisuals: ludwigzeidler.de

 

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Der Wassermaler, Teil I | Etüdensommerpausenintermezzo

Als ich euch zu dem Etüdensommerpausenintermezzo aufgerufen habe, liebe Etüden-Fans und -mitschreiber/innen, wusste ich zwar, dass ich die Beschränkung auf 10 Sätze satthatte, dass sich aber dann in meinen Text gefühlt quasi alle in den vergangenen Monaten „eingesparten“ Sätze hineindrängeln würden, war auch für mich eine Überraschung. Daher habe ich beschlossen, diesen Text zu teilen, denn, bei aller Liebe, er hat wirklich einen stolzen Umfang für einen Blogbeitrag.

Zur Erinnerung: Es geht im Intermezzo darum, folgende Wörter in einen Text beliebiger Länge, in dem REGEN irgendwie eine Rolle spielen muss, einzubauen: Badelatschen, Hitzefrei, Höhenfeuer, Liegestuhl, Qualle, Qualm, Schwimmflügel, Sommersprossen, Ventilator, Wassermaler.

Der Wassermaler

 

Donnerstag

„Was machst du da?“ krähte es fröhlich vor ihm. Er schreckte auf. Sommersprossen, Pippi-Langstrumpf-Zöpfe, Zahnlücke, Glitzer-T-Shirt mit Regenbogen-Einhorn, das Schmetterlinge pupste. Rosa!
Aua.
„Ich male das Wasser“, erklärte er und ließ den Pinsel sinken.
„Mama fotografiert das Wasser mit dem Handy“, erklärte sie wichtig.
Er seufzte. Ja, klar.
„Das machen die meisten“, antwortete er.
„Und warum du nicht?“
„Weil ich gut malen kann, aber nicht gut fotografieren.“
Sie stellte sich so dicht neben ihn, dass er die Sonnencreme riechen konnte, mit der sie offensichtlich eingeschmiert war, und betrachtete seine Skizze kritisch.
„Finde ich nicht“, entschied sie dann. „Ich muss jetzt! Tschüss!“
Und weg war sie. Er sah ihr nach, wie sie in ihren Badelatschen die Seepromenade entlangrannte, dass es nur so klatschte, und musste grinsen. Freche kleine Krabbe. Wie alt mochte sie sein?

Als er am Abend seine Sachen zusammenpackte, stand sie plötzlich wieder vor ihm.
„Guck mal, Mama, der Wassermaler ist noch da!“
Mama war eindeutig die größere Ausgabe. Sommersprossen, Locken, pinkfarbenes T-Shirt, auf dem Mit ein bisschen Glitzer geht alles stand, ziemlich kurzer Rock, rosa lackierte Fußnägel. Maximal Anfang vierzig. Eine große Strandtasche, aus der ein rosa Schwimmring und eine Wasserflasche ragten, lag über ihrer Schulter. Seine Lebensgeister hoben sich und er lächelte sie an.
„Guten Abend“, sagte sie. „Ich hoffe, meine Tochter hat Sie nicht genervt?“
Er schüttelte den Kopf.
„Wenn sie das hätte, hätte ich mit Glitzer geschmissen.“
Sie lachte.
„Psst. Wir sind in einer Einhorn-Phase. Sagen Sie bloß nichts gegen Einhörner. Haben Sie mitbekommen, dass es am Strand heute Quallen-Alarm gab? Sie war mittendrin. Zum Glück ist ihr nichts passiert. Sie lernt gerade schwimmen.“
Er schüttelte den Kopf, überlegte, was er Kluges sagen konnte. Sein Hals war plötzlich wie zugeschnürt.
„Kommst du, Mama?“ rief das Mädchen, das schon vorgegangen war. „Ich hab Hunger!“
Sie nickte ihm zu.
„Na dann! Schönen Abend noch!“
Er sah beiden nach. Schwimmen lernte sie! Es zog in seinem Herz. Die Kleine sah fast aus wie Marie.

 

Freitag

Am nächsten Tag schlug das Wetter um. Der Wind frischte auf, die Wellen wurden rauer, er fand es nicht mehr so drückend und war froh darüber. Er war trotzdem den ganzen Tag draußen gewesen, hatte fast an der gleichen Stelle gesessen und gemalt, aber weder Mutter noch Tochter ließen sich blicken. Na ja, vermutlich war Bettenwechsel oder so etwas. Die Richtung, in die die beiden abgezogen waren, ließ auf eine der großen Bettenburgen schließen. Waren jetzt eigentlich noch Schulferien? Früher hätte er es gewusst.
Ach, die Erinnerungen. Das würde kein erfreulicher Abend werden.

 

Samstag

Als er wieder wach wurde, dröhnte ihm der Schädel und sein Magen hing auf halbmast. Die Flasche Rotwein am Abend zuvor hatte mehr Verwüstungen angerichtet, als ihm lieb war, stellte er fest, und dass man nicht jünger wurde, war jenseits der Fünfzig auch kein Geheimnis mehr. War nur ihm so warm oder war es schon wieder heiß? Er schüttelte die Albträume ab und trat auf den Balkon.
Gleißendes Sonnenlicht empfing ihn. Oha. Er blinzelte. Heute würden die Temperaturen richtig hochschnellen und der Strand sich bis zum letzten Handtuch füllen. Wenn das Wetter sogar bis abends hielt, brauchte sich auch das Höhenfeuerwerk nicht um Zuschauer zu sorgen, das wie an jedem ersten Samstag in den Sommermonaten am späten Abend den Himmel erhellen würde. Die Schau- und Trinklustigen, die an den Ständen an der Promenade und am Ostseestrand den einen oder anderen Euro ließen, waren eine wichtige Einnahmequelle für die Kleinstadt. Bei schlechteren Wetterbedingungen konnte es hingegen durchaus passieren, dass es den Qualm bis zu ihm wehte. Aber egal, an der See war schließlich fast immer Wind. Er warf die Kaffeemaschine und den Ventilator an, schüttelte das Bett auf und ließ die Balkontüren weit offen, um den Geruch der Nacht zu verjagen. Dann ging er gähnend erst einmal unter die Dusche. Heute würde er nicht malen, heute würde er verkaufen. Hoffentlich. Hitzefrei kannte er als Wassermaler sowieso nicht. Wassermaler. Der Name gefiel ihm immer besser.

Es lief ganz gut. Es lief sogar so gut, dass er sich am frühen Nachmittag, als eh fast keiner unterwegs war, weil nämlich kluge Leute zu diesem Zeitpunkt Siesta hielten, einen Liegestuhl und einen Iced Coffee Irgendwas leistete und müßig das Treiben an und im Wasser beobachtete. Vor ihm erstreckte sich der Badestrand, ein Gewimmel aus Schirmen und Decken. Schlagermusik wehte zu ihm herüber, und er pries sein Glück, weit weg von deren Quelle zu sein. Auch das Wasser war belebt, in der Nähe der Absperrung zum offenen Wasser sah er lauter bunte Badekappen und Schwimmflügel oder Schwimmringe, die wie Entenküken um ihre Mutter herumwuselten. Vermutlich ein Schwimmkurs für Kinder. Die zwei Entenmütter schienen hier rote Badekappen zu tragen. Wieder durchzuckte ihn der Gedanke an Marie und an das Mädchen, das ihr so ähnlich sah, dann schob er ihn energisch weg und döste ein.

Ein Windstoß weckte ihn. Von fern glaubte er, einen Donner zu hören. Bei der Wolkenwand, die sich im Westen unterdessen aufgebaut hatte, war das nicht unwahrscheinlich. Er ließ seinen Blick über das Wasser schweifen. Aha, die Wasserwacht hatte schon mal die gelbe Flagge aufgezogen, die rechneten also mit Ärger. Vermutlich war sein Freund Mick heute im Einsatz, der war routiniert und ging kein Risiko ein.
Die Entenküken waren auch alle verschwunden … halt! Er beschattete mit der Hand die Augen und konzentrierte sich. Da war doch im Tiefen, ein Stück jenseits der Absperrung, eine Badekappe mit einem rosa Schwimmring, oder täuschte er sich? Ihm war gar nicht bewusst, dass er sich in Bewegung gesetzt hatte, als er schon zu der Station der Rettungsschwimmer rannte. Mick und sein Kumpel sahen durch ihre Ferngläser in die Richtung, in die er nach Luft ringend deutete, einer rief „Oh, Scheiße“ und griff nach seinem Funkgerät. Wenige Sekunden später sahen sie einen der Wachgänger ins Wasser rennen und zügig loskraulen.

Ende des ersten Teils

 

So, ihr Lieben. Lest am Dienstag wieder rein (morgen gibt es das Montagsgedicht, Traditionen möchten gepflegt werden), um zu erfahren, ob es Tote gibt, wer eigentlich Marie ist und wie happy das Ende wird. Bis dahin freue ich mich wie immer auf eure Kommentare.
Schönen Sonntag!

Update: Weiterlesen? HIER.

 

intermezzo 3 | 365tageasatzadayVisuals: ludwigzeidler.de

 

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