24.12. – Fräulein Honigohrs Weihnachtswanderung | Adventüden

Stopp! Pause!« Herr Brummeck stemmt die Hände in die Hüften und schnauft.

Fräulein Honigohr wippt ungeduldig auf den Zehenspitzen. Es ist nicht mehr weit und die Zeit drängt. Die Bäume ragen kahl empor, der Weg hat schon vor längerer Zeit beschlossen, anderswo entlangzuführen. Die Nacht ist klar, aber leider nicht eiskalt, da kann auch der schönste Sternenglanz nichts ändern.

»Müssen wir das wirklich jedes Jahr machen?« Herr Brummeck sieht leidend aus.

»Natürlich.« Fräulein Honigohr ist mitleidlos. Er muss ja nicht mitkommen. Aber er will es so. »Weiter!«

Herr Brummeck stöhnt, aber er läuft ihr hinterher. Das Unterholz ist dicht und hat noch nie Laubsägen oder Äxte gesehen, aber Fräulein Honigohr weiß, wo sie lang muss. Und da ist sie schon, die Lichtung. Der Schnee leuchtet fahlweiß unter dem Nachthimmel, und Fräulein Honigohr lacht laut auf. »Er ist noch da! Siehst du? Der Einzige weit und breit!«

Herr Brummeck schnauft.

»Komm!« Fräulein Honigohr schubst ihn in den Schnee und wirft sich dann selbst hinein. Akribisch malen sie acht Schnee-Engel auf die Lichtung, für mehr ist kein Platz. Der Schnee ist schwer und nass und quietscht leise. Als sie fertig sind, stellen sie sich nebeneinander auf. »Jetzt«, flüstert Fräulein Honigohr und schnipst mit den Fingern. Langsam erheben sich die Schnee-Engel aus ihren Abdrücken. Sie sind ein wenig zerknautscht, genau wie der Schnee. »Ihr wisst, was ihr zu tun habt?«, fragt Fräulein Honigohr, und sie nicken. »Dann wünsche ich gutes Gelingen. Ihr habt zwölf Stunden, wie immer.« Sie fliegen auf, ihre Flügel ein leises Rauschen wie Lametta im Wind.

»So schön …« Fräulein Honigohr lehnt sich an Herrn Brummeck. Er legt einen Arm um sie. »Der alte Mann kann ja nicht alles allein machen.«

»Stimmt.«

Sie sehen den Schnee-Engeln hinterher, bis das Rauschen verklungen ist. Dann machen sie sich an den Abstieg.


Autor*in: Tanja                    Blog: Stachelbeermond


Adventüden 2022 24-12 | 365tageasatzaday

Quelle: Pixabay, Bearbeitung von mir

Zum Thema Inhaltshinweise/CN/Triggerwarnungen in den Adventüden bitte hier lesen.

Nachdem viele Teilnehmer*innen und Leser*innen das Fetten der vorgegebenen Wörter als störend empfunden haben, wurde darauf verzichtet. In einem Text, der maximal 300 Wörter umfassen durfte, waren (mindestens) drei der folgenden fünfzehn Begriffe zu verwenden:

Adventskalender, Dezemberdilemma, Eintopf, Gebäckdose, Hefe, Lametta, Laubsäge, Liebeserklärung, Kreuzkümmel, Kulturschock, Sternenglanz, Sturz, Taschentuch, Tunichtgut, Weihnachtsputz.

Dieser Text erschien zuerst im Rahmen der Adventüden 2022, einem Projekt von »Irgendwas ist immer«.

 

Adventüden 2021 19-12 | 365tageasatzaday

19.12. – Fräulein Honigohr und die Weihnachtsfeier | Adventüden

Fräulein Honigohr nimmt einen winzigen Löffel Kartoffelsalat, dann guckt sie unentschlossen in den Punsch. Ihr ist nicht nach Punsch. Eigentlich auch nicht nach Kartoffelsalat, aber wenn sie schon mal hier ist, sollte sie wenigstens irgendetwas mitmachen. Sie hat bereits strafende Blicke geerntet, weil sie keine Lust auf Kekse hatte, den Begrüßungssekt zu süß fand und den Marzipanteller unberührt weitergereicht hat. Beim Smalltalk hat sie sich zusammengerissen, den unwillkommenen Flirtversuch elegant abgewehrt. Sie guckt den Weihnachtsschmuck vor ihrer Nase an. Ihr breitgezogenes Gesicht spiegelt sich wie in Rotwein getunkt.

»Honigöhrchen! Lust zu tanzen?«

Glühweingetränkter Atem weht ihr ins Ohr.

»Nein, wirklich nicht«, antwortet sie gereizt. Honigöhrchen! Frechheit! Irgendetwas muss in ihrem Blick gelegen haben, denn der Glühweintrinker sieht beleidigt aus.

»Du musst ja nicht«, murmelt er verschnupft und tritt den Rückzug an.

Fräulein Honigohr seufzt. Sie hätte nicht kommen sollen. Ihr ist heute einfach nicht nach Weihnachtsfeier. Es ist nicht kalt genug, das Jahr war lang, sie ist müde. Aber so miesepetrig sollte sie auch nicht sein, die anderen haben nämlich Spaß, das kann sie sehen. Sie starrt in die Weihnachtskugel. Ihr rotes Doppelgängergesicht starrt zurück. Fräulein Honigohr spitzt die Lippen, dann tippt sie die Kugel an.

»He, du«, flüstert sie, »hättest du Lust, da mal rauszukommen?«

Die Fräulein-Honigohr-Spiegelung reißt die Augen auf und nickt so enthusiastisch, dass die Kugel ins Schwingen gerät. Fräulein Honigohr lächelt und schließt kurz die Augen, dann sitzt sie in der roten Kugel und ihre Spiegeldoppelgängerin steht vor dem Punschtopf. Nur der breitere Mund verrät, dass da nicht das Original begeistert das Buffet abräumt und oben auf den Berg Kartoffelsalat noch einen Bratapfel legt.

»Tanz, meine Schöne«, flüstert Fräulein Honigohr und macht es sich in der roten Kugel gemütlich. Sie sehnt sich nach Sturmwolkenblau und Schneeregen. Ob die blaue Kugel neben ihrer roten schon belegt ist?


Autor*in: Tanja                               Blog: Stachelbeermond

 

Adventüden 2021 19-12 | 365tageasatzaday
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Aktentasche, Bratapfel, Doppelgänger, Eistee, Geborgenheit, Glitzer, Kartoffelsalat, Kekse, Kopfzerbrechen, Marzipan, Partitur, Schneeregen, Sehnsucht, Sturmwolkenblau, Weihnachtsschmuck

Dieser Text erschien zuerst im Rahmen der Adventüden 2021, einem Projekt von »Irgendwas ist immer«.

 

Adventüden 2020 29-11 | 365tageasatzaday

29.11. – Advent im Seniorenheim | Adventüden

 

Fräulein Honigohr schiebt den Kessel vor den Gemeinschaftsraum. Jetzt fehlt nur noch der perfekte Platz. Sie umrundet suchend einen Ohrensessel und erschrickt fast zu Tode, weil ein alter Mann darin sitzt. Er öffnet erst ein Auge, dann das zweite.
Ein Lächeln breitet sich auf seinem Graubartgesicht aus. »Du? Das freut mich aber!«
»Herrje! Du hast mich erschreckt! Was tust du hier?«
»Keine Umarmung? Kein Lächeln? Oh-oh, du bist immer noch sauer …«
Fräulein Honigohr kraust die Nase und spitzt die Lippen.
Der Graubartmann seufzt. »Na gut. Ich mache Urlaub. Diese alte Geschichte tut mir leid, aber ich bin nicht perfekt, auch, wenn das alle glauben möchten.«
Fräulein Honigohr guckt vorwurfsvoll. »Urlaub? Solltest du nicht arbeiten? Bei dir ist doch jetzt Hochsaison, oder?«
Der alte Mann winkt ab. »Ich muss nur zum Finale da sein. Hier gibt’s drei Mahlzeiten am Tag und keiner quatscht mich mit Wünschen voll. Außerdem ist es schön warm. Wie ich diesen ewigen Schnee hasse! Sind die Nebelschwaden da draußen nicht herrlich?«
»Na ja.« Fräulein Honigohr schaut skeptisch aus dem Fenster.
»Und du? Was tust du hier?«
»Ich bringe nur ein bisschen Wunschpunsch vorbei.«
»Deinen berühmten? Mit Gin?« Der Bart des alten Mannes leuchtet hell-weiß auf.
Fräulein Honigohr schlägt bescheiden die Augen nieder.
»Darf ich probieren?«

Sie nickt, dreht sich um und erstarrt. Auf dem Gang stehen drei alte Frauen, sie haben gefüllte Zahnputzbecher in der Hand und flüstern Wünsche in die Korridorluft. Ein winzig kleines geflügeltes Schwein fliegt Slalom durch die Zimmerpalmen.
»Du könntest mir helfen«, sagt Fräulein Honigohr, »der Kessel ist schwer, und ich würde ihn gern hier reinstellen, bevor er leer ist.«
Der alte Mann springt mit erstaunlich elastischen Bewegungen auf. »Und dann sind wir quitt?«
»Ja.«

Das Minischwein quiekt leise, dann segelt es auf den Flur hinaus. Es gilt, draußen eine Welt zu entdecken.

Autor*in: Tanja     Blog: Stachelbeermond

 

Adventüden 2020 29-11 | 365tageasatzaday
Quelle: Pixabay, Bearbeitung von mir
 

 

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Etikett, Gin, Käsekuchen, Kuscheldecke, Lebkuchen, Lichtermeer, Märchenbuch, Minnesang, Nebelschwaden, Schlittenfahrt, Semmelknödel, Streicheleinheiten, Wichtel, Wunschpunsch, Zugvogel

Dieser Text erschien zuerst im Rahmen der Adventüden 2020, einem Projekt von »Irgendwas ist immer«.

 

01 – Fräulein Honigohr und der Adventskalender | Adventüden

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Fräulein Honigohr und der Adventskalender (Tanja, Stachelbeermond)

 

Fräulein Honigohr schlägt die Bettdecke zurück, wirft ihre Strickjacke über und läuft auf nackten Sohlen zum Adventskalender. Die Dielenbretter sind eisig, aber für Socken hatte sie nun wirklich keine Zeit, der Adventskalender hat Priorität! Voller Vorfreude sucht sie nach dem Päckchen für heute, und da ist es auch schon: Klein, rund und in weißes Papier eingewickelt. Unspektakulär. Fräulein Honigohr betrachtet es neugierig. Auf dem Papier steht mit Bleistift geschrieben: »Was du nicht erwartest.« Aha?

Fräulein Honigohr tippt sich mit dem Finger an die Nase, dann wickelt sie das Papier auf. Zum Vorschein kommt ein rotes Bonbon, das nach Erdbeere duftet. Fräulein Honigohr probiert vorsichtig. Es schmeckt nach Kakao. Mit einem Hauch Zimt, wie früher.

Sie lutscht vor sich hin, während sie sich anzieht, in die Küche geht und Tee kocht. Ein guter Tagesbeginn, denkt sie, und hält versonnen die Teekanne über ihre Tasse. Es kommt allerdings kein Tee heraus. Zartes, weit entferntes Hundegebell fließt aus dem weißen Porzellan. Fräulein Honigohr starrt in ihre Tasse. Mit jeder vergehenden Sekunde wird das Gebell leiser und verstummt schließlich. Sie schenkt nach, lauscht den Hunden hinterher, verfolgt ihren wilden Lauf im Schneegestöber, während sie mit anderen Kindern zusammen über die frostigen Ebenen rennt, wild lachend, mit kalter, roter Nase und wippender Pudelmütze, glücklich bis in die Fingerspitzen, die Steinwüste bedeckt mit glitzerndem Eis, auf dem sie schneller als der Wind gleitet.

Fräulein Honigohr öffnet die Augen. Das Gebell ist verstummt. Versuchsweise hält sie die Teekanne noch einmal schräg, und dieses Mal schweben Schneeflocken heraus und wirbeln wie kleine nasse Küsse in ihrer Küche umher.

Fräulein Honigohr ist gerührt. Wintererinnerungen in ihrem Adventskalender. Herr Brummeck hat sich selbst übertroffen. Manchmal ist er grantiger als ein Bärenfell, aber tief drinnen hat er ein Herz aus Zimtkakao. Morgen ist sie dran. Sie wird sich ins Zeug legen.

 

Adventüden 2019 01 | 365tageasatzadayQuelle: Pixabay, Bearbeitung von mir

 

Diese Etüde stammt von Tanja und ihrem Blog Stachelbeermond. Tanja wurde von mir nachnominiert, nachdem der Etüdenerfinder leider seine Teilnahme abgesagt hatte. Sie schreibt seit Herbst regelmäßig mit, und ich bin völlig von Fräulein Honigohr verzaubert.