Von Zeit und Erinnerung

 

Betrachtung der Zeit

Mein sind die Jahre nicht die mir die Zeit genommen/
Mein sind die Jahre nicht/ die etwa möchten kommen
Der Augenblick ist mein/ und nehm’ ich den in acht
So ist der mein/ der Jahr und Ewigkeit gemacht.

(Andreas Gryphius, Betrachtung der Zeit, Epigramme. Das erste Buch, 1663, Online-Quelle)

 

Erinnerung

Einmal vor manchem Jahre
war ich ein Baum am Bergesrand,
und meine Birkenhaare
kämmte der Mond mit weißer Hand.

Hoch überm Abgrund hing ich
windbewegt auf schroffem Stein,
tanzende Wolken fing ich
mir als vergänglich Spielzeug ein.

Fühlte nichts im Gemüte
weder von Wonne noch Leid,
rauschte, verwelkte, blühte;
in meinem Schatten schlief die Zeit.

(Ricarda Huch, Erinnerung, aus: Gedichte, 1894, Online-Quelle)

 

[Sieben Billionen Jahre vor meiner Geburt]

Sieben Billionen Jahre vor meiner Geburt
war ich eine Schwertlilie.

Meine Wurzeln
saugten sich
in einen Stern.

Auf seinem dunklen Wasser
schwamm
meine blaue Riesenblüte.

(Arno Holz, Sieben Billionen Jahre vor meiner Geburt, aus: Phantasus, II. Heft, Berlin, 1899, Online-Quelle)

 

 

 

 

Schiefe Birke im Winter | 365tageasatzadayQuelle: Pixabay

 

 

Eigentlich vermute ich ja, dass Arno Holz eine Lotosblüte gemeint hat. Macht aber nichts, hat mich nur davon abgehalten, ein entsprechendes Foto herauszusuchen.

Wer noch Feiertag hat, dem wünsche ich einen entspannten Tag, und uns allen, dass wir gut in die neue Woche kommen!

 

 

Herbst

Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.

(Rainer Maria Rilke, Herbst, aus: Das Buch der Bilder, 1906, Quelle)

 

Herbstbaum | 365tageasatzadayQuelle: Pixabay

 

Es ist kein Geheimnis, dass ich dieses Gedicht mag, und ja, Rilkes anderes allseits bekanntes Herbstgedicht (Herbsttag) liebe ich ebenfalls sehr.

Möge euch die neue Woche gut gelingen!

 

Betrachtung der Zeit

Mein sind die Jahre nicht die mir die Zeit genommen/
Mein sind die Jahre nicht/ die etwa möchten kommen
Der Augenblick ist mein/ und nehm‘ ich den in acht
So ist der mein/ der Jahr und Ewigkeit gemacht.

(Andreas Gryphius: Betrachtung der Zeit, Epigramme. Das erste Buch, 1663, Quelle)

 

 

Mir war so danach. Ja, Otto Sander, ist er nicht einfach großartig? Ja, das ist ein Fehler im Vorspann, der Autor ist nicht Paul Fleming sondern Andreas Gryphius (obwohl Fleming ein Zeitgenosse von Gryphius war).

Kommt gut in die neue Woche!

 

Aufruf! Balladenwochenende: Die Brück‘ am Tay

Balladen sind, kurz erklärt, Romanhandlungen in einem Gedicht zusammengefasst. Das macht das Gedicht in der Regel länger, jawohl, und zumindest wenn es eine klassische Ballade ist, macht es das Gedicht auch gereimt, auf jeden Fall gibt es so etwas wie ein Versmaß. Und meist ist es dramatisch (was sehr oft wörtliche Rede bedeutet), womit es dann erstens (hoffentlich) nicht langweilig ist und zweitens gleich drei Literaturgattungen vereint: Lyrik, Epik, Drama.

Klingt eigentlich ganz nett? Ist es auch. Wäre es noch viel mehr, wenn nicht ungezählte Schüler/innen in ungezählten Jahrgängen damit geplagt worden wären, eines dieser Trümmer auswendig lernen und aufsagen zu müssen. Ich hatte auch diese Sorte Lehrer, die einem alles versauen können. Bei mir haben sie es nicht geschafft, aber wenn ich Balladen nicht vorher schon gekannt und geliebt hätte, wäre es knapp geworden. Ich vermute mal, ihr habt da eigene Geschichten.

Daher und auch, weil es ein grau-weißer, kalter, stürmischer Freitag der 13. im Winter ist und ich finde, dass wir alle „Lieder vor dem Ofen zu singen“ brauchen und singen sollten, damit die Welt bunt bleibt, mein Aufruf an euch: Macht mit beim Balladenwochenende! Füllt drei Tage lang eure Blogs mit Balladen! Postet eure Lieblingsballaden bei euch, stoßt ein Fenster in andere Welten auf, erzählt, warum ihr diese Ballade besonders liebt oder hasst oder was euch mit ihr verbindet! Ich freue mich, wenn mein Bildchen benutzt wird und/oder ihr hierher verlinkt, aber das steht euch natürlich völlig frei.

 

Blog goes Ballade | 365tageasatzadayQuelle: Bild Pixabay, Bearbeitung von mir

 

Meine Freitags-Ballade, die mich damals unglaublich beeindruckt hat, basiert auf einem wahren Vorfall.

 

Theodor Fontane: Die Brück‘ am Tay (Quelle)

(28. Dezember 1879)
When shall we three meet again?
Macbeth

»Wann treffen wir drei wieder zusamm?«
»Um die siebente Stund‘, am Brückendamm.«
»Am Mittelpfeiler.«
»Ich lösche die Flamm.«
»Ich mit.«

»Ich komme vom Norden her.«
»Und ich vom Süden.«
»Und ich vom Meer.«

»Hei, das gibt einen Ringelreihn,
Und die Brücke muß in den Grund hinein.«

»Und der Zug, der in die Brücke tritt
Um die siebente Stund’?«
»Ei, der muß mit.«
»Muß mit.«

»Tand, Tand
Ist das Gebilde von Menschenhand!«

Auf der Norderseite, das Brückenhaus —
Alle Fenster sehen nach Süden aus,
Und die Brücknersleut’ ohne Rast und Ruh
Und in Bangen sehen nach Süden zu,
Sehen und warten, ob nicht ein Licht
Übers Wasser hin »Ich komme« spricht,
»Ich komme, trotz Nacht und Sturmesflug,
Ich, der Edinburger Zug.«

Und der Brückner jetzt: »Ich seh’ einen Schein
Am anderen Ufer. Das muß er sein.
Nun, Mutter, weg mit dem bangen Traum,
Unser Johnie kommt und will seinen Baum,
Und was noch am Baume von Lichtern ist,
Zünd’ alles an wie zum heiligen Christ,
Der will heuer zweimal mit uns sein, —
Und in elf Minuten ist er herein.«

Und es war der Zug. Am Süderturm
Keucht er vorbei jetzt gegen den Sturm,
Und Johnie spricht: »Die Brücke noch!
Aber was tut es, wir zwingen es doch.
Ein fester Kessel, ein doppelter Dampf,
Die bleiben Sieger in solchem Kampf.
Und wie’s auch rast und ringt und rennt,
Wir kriegen es unter, das Element.

Und unser Stolz ist unsre Brück’;
Ich lache, denk’ ich an früher zurück,
An all den Jammer und all die Not
Mit dem elend alten Schifferboot;
Wie manche liebe Christfestnacht
Hab’ ich im Fährhaus zugebracht
Und sah unsrer Fenster lichten Schein
Und zählte und konnte nicht drüben sein.«

Auf der Norderseite, das Brückenhaus —
Alle Fenster sehen nach Süden aus,
Und die Brücknersleut’ ohne Rast und Ruh
Und in Bangen sehen nach Süden zu;
Denn wütender wurde der Winde Spiel,
Und jetzt, als ob Feuer vom Himmel fiel’,
Erglüht es in niederschießender Pracht
Überm Wasser unten… Und wieder ist Nacht.

»Wann treffen wir drei wieder zusamm?«
»Um Mitternacht, am Bergeskamm.«
»Auf dem hohen Moor, am Erlenstamm.«

»Ich komme.«
»Ich mit.«
»Ich nenn’ euch die Zahl.«
»Und ich die Namen.«

»Und ich die Qual.«
»Hei!
Wie Splitter brach das Gebälk entzwei.«
»Tand, Tand
Ist das Gebilde von Menschenhand.«

 

Weshalb ich diese Ballade niemals völlig vergessen werde, hat mehrere Gründe. Das Unglück, über das Fontane berichtet, hat es wirklich gegeben, Fontane spricht „vom Einsturz der Firth-of-Tay-Brücke in Schottland am 28. Dezember 1879, der mit einem Eisenbahnzug 75 Menschen in den Tod riss. Die Firth-of-Tay-Brücke war 1871–1878 unter enormem Aufwand erbaut worden und bereits eineinhalb Jahre nach ihrer Eröffnung im Sturm zusammengebrochen“ (Quelle: Wikipedia, seht euch die Bilder an, ich zumindest war damals schon fassungslos).

Ferner ist diesem Gedicht ein Zitat aus Shakespeares „Macbeth“ vorangestellt. Ich will hier überhaupt keine Diskussion über Shakespeare vom Zaun brechen, seine Werke sind (mit anderen) das Fundament, auf dem die moderne Geistesgeschichte steht. Meine Erinnerung an Macbeth ist eine Off-Topic-Erinnerung an den Englischunterricht der Oberstufe, als wir das Teil ungelogen mindestens ein Jahr durchgekaut und alles, wirklich alles, durchdiskutiert haben. (Wir haben uns, trotz der Orson-Welles-Verfilmung, teilweise rechtschaffen gelangweilt. Der Parallelkurs hatte mit „Romeo und Julia“ mehr Glück.) Und drittens geht es um das Wirken von Hexen.

Ich habe schon immer ein Faible für Hexen gehabt. Ich fand es meist doof, wie sie in den Märchen wegkamen, ich hatte immer das Gefühl, dass da mehr dahintersteckte, als man mir erzählte. Auch Fontane benutzt Hexen hier nur scheinbar als Sündenböcke, in Wirklichkeit kritisiert er die Industrialisierung, die Fortschritts- und Technikgläubigkeit der Menschen, die glauben, die Macht der Naturgewalten (hier symbolisiert durch die Hexen, siehe Macbeth) bezwungen zu haben. Kommt mir als Thema heute immer noch sehr vertraut vor.

Und schließlich gibt es da noch Terry Pratchetts Eingangsszene zu „MacBest“.

Wind heulte. Blitze stachen ziellos herab, wie ein ungeschickter Mörder. Donner rollte über das dunkle, regengepeitschte Land. […] Mitten im elementaren Stürmen, neben tropfnassen Stechginsterbüschen, glühte Feuerschein wie Tollheit im Auge eines Wiesels. Das flackernde Licht fiel auf drei Gestalten. Es blubberte im nahen Kessel, und eine unheimliche Stimme kreischte: Wann soll’n wir drei uns wiedersehen?“
Eine kurze Pause folgte.
Schließlich erwiderte eine andere und weitaus normaler klingende Stimme: „Tja, ich hätte nächsten Dienstag Zeit.“

Willkommen auf der Scheibenwelt! Wer jetzt bildlich sehen möchte, worauf Terry Pratchett sich bezieht, klicke hier, dies ist die Eingangsszene von Macbeth in der grandiosen Verfilmung mit Orson Welles.

Reicht das? Das reicht. Also, ich freue mich darauf, eure liebsten Balladen zu lesen.

Und last but not least gibt es nach so viel Shakespeare noch ein Bröckchen Otto Sander zu herrlichen Bildern von William Turner.

 

 

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Herbst

Na, kommt, ich habe mich bisher echt zurückgehalten. Ich habe nicht mal unser aller (also, okay, meins, ja, wirklich, eins davon) Lieblings-Rilkegedicht zitiert: Herbsttag. Das mit den Alleen. Unruhig wandern. Genau.
An diesem hier komme ich aber in diesem Herbst nicht vorbei, weiß auch nicht so richtig warum. Aber muss ich eigentlich auch nicht.

 

Herbstlaub – 365tageasatzadayQuelle: ichmeinerselbst | Klick macht groß

 

Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.

(Rainer Maria Rilke, Herbst, Quelle)

 

Wer lebensphilosophische Erörterungen zum Gedicht mag (besonders die Frage nach der „verneinenden Gebärde“), sollte hier nachlesen, ansonsten gibts jetzt was auf die Ohren, gesprochen von Otto Sander.

 

Bin für ein verlängertes Wochenende offline, habt eine gute Zeit!